Die Wahrheit der letzten Stunde
den fließenden Verkehr einfädelt, und geht dann zurück in das Gebäude, in dem die Kanzlei untergebracht ist. Er kann sich einen Blick auf seinen Namen auf dem steinernen Schild draußen an der Fassade nicht verkneifen. Die Türen aus Glas und Chrom schwingen automatisch auf, als hätten sie die ganze Zeit nur auf ihn gewartet.
Mariah flüchtet sich in ihr Atelier unten im Keller. Entschlossen greift sie nach einem Stück Ahornholz, um daraus einen Miniatur-Küchentisch zu fertigen, aber sie ist zu abgelenkt, um konzentriert zu arbeiten. Frustriert hockt sie neben ihrem halbfertigen Hausmodell und stützt den Kopf in die Hände.
Sie kann die winzigen Badezimmerarmaturen sehen, die gemaserten Holzböden in den Schlafzimmern und die Tür des Küchenschranks, die einen Spalt offen steht. Sie kann mühelos in die privatesten Winkel des Hauses schauen.
So muss es sein, wenn man Gott ist, sagt sie sich.
Sie denkt eine Weile hierüber nach, denkt an all die jungen Mädchen, die so selbstverständlich Gott spielen und jeden Schritt ihrer Puppenfamilien in ihrem Puppenhaus bestimmen. Mariah blickt an die Decke und fragt sich, ob Gott dasselbe mit ihr und Faith macht.
Plötzlich fällt ihr wieder ein, warum sie als Kind nie Puppen in ihren Puppenhäusern hatte. Der Hund würde an das Haus pinkeln, und das winzige Kind würde die Treppe hinunterfallen, bevor Mariah es auffangen konnte. Oder die Mutterfigur lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, und Mariah stellte sich vor, dass die Puppe sich die ganze Nacht die Augen ausgeweint hatte, während sie selbst schlief. Es hatte ihr ein schlechtes Gewissen vermittelt - sie konnte nicht mit allen Puppen gleichzeitig spielen, konnte nicht ihren sämtlichen Bedürfnissen nachkommen. Es war gar nicht so toll, Gott zu sein, die Macht zu besitzen, zu helfen, zu trösten und zu beruhigen und doch zu wissen, dass sie nicht immer jeden vor Schaden bewahren konnte.
Und so begann sie irgendwann, Häuser ohne Puppen zu bauen, Häuser, in denen die Möbel am Boden festgeklebt waren, Häuser, in denen nichts dem Zufall überlassen blieb. Und doch erkennt Mariah nun, dass es ihr nicht ganz gelungen ist, dem zu entgehen, wovor sie sich hat schützen wollen.
Manipulation, Verantwortung, Wachsamkeit. Im Grunde war es gar kein so großer Unterschied zum Alltag einer Mutter.
Diözese der Katholischen Kirche in Manchester
Manchester, NH, 29. Oktober 1999 - Seine Exzellenz der Bischof von Manchester hat ein Rundschreiben verschickt zu den Untersuchungen durch Priester, Theologen und Laien hinsichtlich der Aktivitäten von Faith White, wohnhaft in New Canaan, NH, die behauptet, göttliche Erscheinungen zu hören und zu sehen.
Von der Diözese wurde eine nüchterne und gründliche Untersuchung der Angelegenheit veranlasst, und es wurde festgestellt, dass Faith Whites Behauptungen falsch sind. Es ist unsere Pflicht, auf einen großen Fehler auf Doktrin-Ebene hinzuweisen: ketzerische Behauptungen sich auf Christus beziehend, der weder Frau noch Mutter ist noch als solche bezeichnet werden darf.
Die MotherGod Society, die weitestgehend verantwortlich ist für die Verbreitung der Botschaft von Faith White über Flugblätter und mündliche Überlieferung, verbreitet Lehren, die nicht dem katholischen Dogma entsprechen und somit zu ignorieren sind.
Als die MotherGod Society am Abend von Bischof Andrews offiziellem Statement erfährt, verteilen die Frauen Apfel. Sie verteilen mehr als dreihundert Jonagold von einem Obstbauern aus der Nachbarschaft und fordern die Menschen auf, ein Stück aus dem Mythos der rein männlichen Religion herauszubeißen. »Der Garten Eden war nur der Anfang«, rufen sie. »Eva war nicht schuld am Sündenfall.«
Die Frau, die zu ihrer Anführerin geworden ist, Mary Anne Knight, mischt sich unter die Menschen, die sich vor dem White-Haus eingefunden haben, und schüttelt jedem die Hand. Sie weiß, dass diese Bewegung nicht so radikal und neu ist, wie viele glauben werden. Vor zwanzig Jahren hat sie am Boston College studiert, zusammen mit Mary Daly, die aus der katholischen Kirche austrat, die sie als sexistisch verurteilte. Aber Mary Anne liebte den Katholizismus zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren. Eines Tages, betete sie, wird es auch für mich einen Platz in dieser Kirche geben. Dann hörte sie von Faith White.
Sie steht auf einer umgedrehten Apfelkiste; ihre Anhängerinnen haben sich um sie geschart und schwenken die halb gegessenen Äpfel.
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