Die Wahrheit der letzten Stunde
geschlafen habe wie in jener Nacht mit dir.«
»Ich glaube … ich glaube, es würde mir gefallen, mit dir neben mir aufzuwachen«, sagt Mariah schüchtern.
»Das fände ich auch schön«, stimmt Ian ihr zu. »Und jetzt geh von diesem Fenster weg. Ich will nicht, dass die ganzen Aasgeier hier draußen dich sehen.« Er wartet, bis er das Rascheln der Bettdecke hört, als Mariah sich zudeckt. »Gute Nacht.«
»Ian?«
»Hmmm?«
»Wegen dem, was du vorhin gesagt hast… Du wirst doch jetzt nicht weggehen, oder?«
»Ich bleibe, solange du es möchtest«, entgegnet er und sieht, wie das Licht an ihrem Fenster erlischt.
Mariah hat gerade aufgelegt, als sie registriert, dass ihre Mutter in der einen Spalt breit geöffneten Tür steht. Sie weiß nicht, wie viel Millie gehört hat, wie lange sie schon dort steht.
»Wer hat denn so spät noch angerufen?«, fragt ihre Mutter.
»Niemand. Falsch verbunden.« Das Gewicht von Millies Blick über sie gebreitet wie ein zweiter Quilt, dreht Mariah sich auf die Seite, dem Fenster zugewandt, Ian zugewandt.
Aus für Vater MacReady unerfindlichen Gründen ist Vater Rampini nicht auf direktem Wege nach Boston zurückgekehrt, nachdem er am Nachmittag seine Empfehlung an Bischof Andrews abgeschickt hat. Er hat mehrere Stunden im Gästezimmer des Pfarrhauses verbracht, jedoch nicht gepackt, sondern stattdessen die Telefonleitung blockiert mit Faxen, die er via Laptop versandt hat. Und so ist Vater MacReady einigermaßen überrascht, als er vor dem Zubettgehen noch einmal nach unten geht, um sich ein Glas Milch zu holen, und am Küchentisch seinen Gast mit einer Flasche Wein antrifft.
»Chianti?«, fragt Vater Rampini, wobei er nur den einen Mundwinkel verzieht. »Aber Joseph«, scherzt er, einen irischen Akzent imitierend. »Wo haben Sie den guten Malt-Whisky versteckt?«
Vater MacReady lächelt. »Ich finde es nützlich, hin und wieder kulturelle Barrieren zu durchbrechen.«
»Auch ein Glas?« Rampini schiebt seinem Kollegen ein bis zum Rand gefülltes Glas zu, hebt dann das seine und leert es in einem Zug.
Nun, es ist zwar keine Milch, wird ihm aber ebenso gut beim Einschlafen helfen. Vater MacReady nimmt sein Glas und leert es ebenfalls bis auf den letzten Tropfen.
Rampini lacht. »Sollen wir uns jetzt darin messen, wer am weitesten spucken kann?«
»Nein danke. Mir ist schon schlecht. Aber ich habe gelernt, dass es unerzogen ist, sich von jemandem unter den Tisch trinken zu lassen.«
Der Priester am Tisch lächelt. »Ich werde ein anständiger Gast sein. Ich verspreche, ganz gesittet auf meinem Stuhl wegzutreten.«
MacReady setzt sich und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. »Und was schätzen Sie, wie lange Sie mein Gast sein werden?«
»Wenn Sie das Zimmer brauchen …«
»Nein, nein«, entgegnet MacReady sofort beschwichtigend. »Bleiben Sie, solange Sie möchten.«
Rampini schnaubt. »Sie denken gerade darüber nach, wie Sie mich auf unverfängliche Art fragen sollen, was ich noch hier will.«
»Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen.«
»Hmmm.« Rampini reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. »Das habe ich mich selbst auch schon gefragt. Wissen Sie, was ich den ganzen Nachmittag über getan habe?«
»Sie haben eine horrende Telefonrechnung zusammengefaxt?«
»Stimmt, aber dafür wird die Diözese aufkommen. Ich habe das Buch eines Psychiaters gelesen, das von der Vorstellung handelt, die Kinder von Gott haben. Es gibt da eine Theorie, dass die frühesten Wurzeln des Glaubens auf die Erfahrung des Säuglings zurückzuführen sind, der zu seiner Mutter aufschaut und weiß, dass es in Ordnung ist, die Augen zu schließen und sie sich vorzustellen, weil sie noch da sein wird, wenn er die Augen wieder aufmacht.«
Vater MacReady nickt langsam, nicht ganz sicher, worauf sein Gegenüber hinauswill.
»Dann wird das Kind sechs, sieben Jahre alt. Es hört im Fernsehen von Gott und sieht Bilder von Engeln. Es versteht nicht wirklich, wer oder was Gott ist, aber aus dem Kontext heraus begreift es, dass Gott groß und mächtig ist und alles sieht. Das Kind kennt zwei Menschen, die diese Kriterien erfüllen: seine Eltern. Und so benutzt es sie als Rohmaterial. Wenn viel mit dem Kind geschmust wurde, wird es sich einen liebevollen Gott vorstellen. Wurde es sehr streng erzogen, mag seine Vorstellung dieses Wesens eine strengere sein.« Vater Rampini schenkt sich großzügig von dem Chianti nach. »Daraus ergibt sich, dass das Kind möglicherweise jene
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