Die Wahrheit der letzten Stunde
Eisenschuhe über die blutenden Füße stülpten, um auszuschließen, dass er sich die Wunden selbst zufügte. Wie kann Colin es wagen, mir vorzuwerfen, ich würde Faith’ Leben ruinieren.
Dr. Blumberg zögert. »Für weitergehende Untersuchungen benötige ich die Einwilligung der Mutter.«
»Sie haben die des Vaters«, entgegnet Colin kalt.
»Ich werde sie hierbehalten«, sagt Dr. Blumberg. »Aber ich rechne nicht mit neuen Erkenntnissen.«
Zufrieden steht Colin auf. »Können wir jetzt zu ihr?«
»Faith wird in ein paar Minuten auf die Kinderstation gebracht. Sie wird noch benommen sein von dem Sedativum, das ich ihr verabreicht habe.« Er blickt von mir auf Colin. »Ich werde morgen früh wieder nach ihr sehen. Das Krankenhaus gestattet es einem von Ihnen, über Nacht bei ihr zu bleiben.« Er nickt uns zum Abschied zu und geht.
Ich straffe die Schultern und wappne mich für einen Streit, aber zu meiner Überraschung erklärt Colin, dass er nach Hause fahren wird. »Faith wird mit dir rechnen. Bleib du bei ihr.«
Schweigend gehen wir mit dem Fahrstuhl hinauf auf die Kinderstation. Die Schwester am Empfang sagt uns Faith’ Zimmernummer, obgleich sie noch nicht aus der Radiologie zurück ist. Colin und ich betreten das Zimmer, wo er sich auf den einzigen Stuhl setzt, während ich aus dem Fenster mit Blick auf den Hubschrauberlandeplatz sehe.
Nach einigen Minuten rollt eine Schwester Faith in einem Rollstuhl herein und hilft ihr ins Bett. Ihre Hände sind weiß bandagiert. »Mami?«
»Ich bin hier.« Ich setze mich auf die Bettkante und streichle zärtlich ihre Wange. »Wie fühlst du dich?«
Sie wendet den Kopf ab. »Ich will nach Hause.«
Ich streiche ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Der Doktor möchte, dass du hier übernachtest.«
Colin beugt sich von der anderen Bettseite aus über sie. »Hallo, Schneckchen.«
»Papa.«
Vorsichtig nimmt er ihre bandagierte Hand und streichelt die Haut oberhalb des Verbandes. »Wie ist das passiert, Liebes?«, fragt er. »Du kannst es mir ruhig sagen;
ich werde nicht böse. Hast du dir selbst wehgetan? Oder hat dir jemand anders wehgetan? Oma vielleicht? Oder dieser Priester, der euch besuchen kommt?«
»Herr im Himmel…«
Colin kneift die Augen zusammen. »Du bist nicht in jeder Minute bei ihr. Man kann nie wissen, Mariah.«
»Als nächstes wirst du noch behaupten, ich würde ihr die Wunden zufügen«, zische ich.
Colin zieht nur schweigend die Brauen hoch.
Nachdem Faith eingeschlafen ist, steht Colin auf. »Es tut mir leid. Es frisst mich nur auf, sie so zu sehen und nicht zu wissen, wie ich ihr helfen kann.«
»Weißt du, Entschuldigungen zählen nicht, wenn man sie vorab einschränkt.«
Colin mustert mich lange. »Müssen wir so miteinander umgehen?«
»Nein«, entgegne ich leise. »Das müssen wir nicht.«
Und dann liege ich in Colins Armen, das Gesicht an seinen Hals geschmiegt. Er legt die Stirn an meine, in einer Geste, die einen ganzen Strom von Erinnerungen freisetzt. Diesen Mann, mit dem ich eigentlich mein ganzes Leben zusammen sein wollte, werde ich morgen in einem Gerichtssaal Wiedersehen. »Ich komme morgen früh zurück. Ich bin sicher, der Richter vertagt die Verhandlung.«
»Ganz sicher«, murmele ich an seiner Brust.
»Was auch passiert«, sagt er, so leise, dass ich fast glauben könnte, ich bilde es mir nur ein, »ich weiß, dass du nichts damit zu tun hast.«
Nach dieser Beteuerung verlässt Colin mich wieder einmal.
Kenzie wärmt in der Mikrowelle eine Packung Pizzahappen auf und schenkt sich ein großes Glas Rotwein ein, bevor sie sich hinsetzt, um ihr Empfehlungsschreiben an Richter Rothbottam fertigzustellen. Sie gedenkt, die ganze Packung der Appetithappen zu essen und vielleicht sogar noch eine zweite, um sich dann systematisch durch Kühlschrank und Tiefkühltruhe zu arbeiten und sich vollzustopfen, bis sie sich nicht mehr rühren kann. Keinen Finger mehr rühren kann. Diesen Bericht einer Prozesspflegerin nicht schreiben kann.
Richter Rothbottam will diesen Bericht morgen früh auf seinem Schreibtisch haben, vor Beginn der Sorgerechtsverhandlung. Von Kenzie — der objektiven Beobachterin, dem Auge des Sturms - wird erwartet, ein Fundament zu legen, auf dem er die Argumente der gegnerischen Anwälte abwägen kann.
Kenzie trinkt langsam einen großen Schluck Wein. Der Fall White ist so voller Graustufen, dass Kenzie manchmal an ihrer eigenen Klarsichtigkeit zweifelt.
Auf der einen Seite hat sie Colin und
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