Die Wahrheit der letzten Stunde
sein, aber sie würde Faith niemals willentlich wehtun.«
Elkland beißt sich auf die Unterlippe. »Mr. White, nach allem, was ich gelesen habe, gehört das zur Symptomatik dieser psychischen Störung: Man erweckt den Anschein eines perfekten, besorgten Elternteils und macht dabei allen etwas vor.«
»Ich habe gestern Abend nur einen halben Meter von Faith entfernt gestanden und gesehen, wie sie spontan zu bluten angefangen hat«, sagt Colin langsam. »Sie hat sich nicht selbst verletzt, sie hat überhaupt nichts angefasst … und Mariah stand sogar noch weiter von ihr weg als ich. Und doch behaupten Sie, sie hätte … hätte …«
Metz schüttelt den Kopf. »Es geht nicht darum, was ich denke, oder was Sie denken, Colin. Viel wichtiger ist, was der Richter denken soll.«
Kenzie ist an ihrem Laptop eingeschlafen und fährt erschrocken aus dem Schlaf hoch, als das Telefon klingelt. »Ms. van der Hoven«, sagt eine samtweiche Stimme, als sie abnimmt.
Sogar in ihrer schlafbedingten Benommenheit erkennt sie sofort die Stimme von Malcolm Metz. »Sie sind aber früh auf.«
»Fünf Uhr - die beste Zeit des Tages.«
»Wenn Sie es sagen.«
Metz lacht in sich hinein. »Ich nehme an, Sie haben Ihren Bericht bereits abgeschickt.«
Entmutigt blickt Kenzie auf den leeren Bildschirm.
»Ich nehme an, Sie haben ihn dem Richter gestern Abend gefaxt, damit er ihn vor der heutigen Verhandlung lesen kann. Aber ich fühle mich verpflichtet, Sie vor Beginn der eigentlichen Verhandlung von etwas in Kenntnis zu setzen.«
»Und das wäre, Mr. Metz?«
»Faith White wurde gestern Abend ins Krankenhaus eingeliefert.«
Kenzie richtet sich abrupt auf. »Was sagen Sie da?«
»Soweit ich von meinem Mandanten erfahren habe, hat sie wieder angefangen zu bluten, und diesmal ist ihr Zustand schlechter als beim letzten Mal.«
»O mein Gott. Wer ist jetzt bei ihr?«
»Ihre Mutter, nehme ich an.« Er zögert kurz, ehe er fortfährt. »Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass ich einen Dringlichkeitsantrag stellen werde, um sie mit sofortiger Wirkung von ihrer Mutter zu trennen. Ich werde den Richter um eine Verfügung ersuchen, die Mariah White jeden Kontakt zu ihrer Tochter verbietet. Ich habe Grund zu der Annahme, dass niemand anders als Mariah White Faith’ Symptome künstlich herbeiführt.«
»Haben Sie dafür Beweise?«, fragt Kenzie.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Mrs. White an einer bestimmten psychischen Störung leidet. Ich habe den Fall mit einem Experten besprochen, der meine Meinung teilt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das werden sie noch. Ich dachte nur, Sie wären vielleicht gerne vorab informiert«, sagt Metz und legt dann auf.
Kenzie schaltet ihren Computer ein und wartet, dass der Bildschirm zum Leben erwacht. Sie zuckt zusammen, als er anspringt - zu viel Energie auf einmal. Sie beginnt, wie wild zu tippen, in der Hoffnung, Gelegenheit zu haben, Faith noch vor der Verhandlung zu besuchen, in der Hoffnung, wenn tatsächlich ein himmlisches Wesen über Faith wacht, dass es ihr in einen Krankenwagen, ein Krankenhaus und ein neues, sicheres Zuhause folgen kann.
»Meine Empfehlung lautet dahingehend, das Sorgerecht für Faith White dem leiblichen Vater zu übertragen«, schreibt sie.
KAPITEL 14
Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen.
Matthäus 27,42
3. Dezember 1999 - Morgen
ALS FAITH NOCH ein Baby war und Mariah immer noch staunte, ein Baby an ihrer Seite schlafen oder an ihrer Brust saugen zu sehen, war Mariah manchmal von panischer Angst befallen worden. Jahre erstreckten sich vor ihr wie rote Straßen auf einer Karte, angefüllt mit Gefahren und Irrtümern. Faith’ Leben war damals noch ein unbeschriebenes Blatt, heil und ohne Narben. Und an Mariah lag es, diesen Zustand zu erhalten.
Sie erkannte sehr bald, dass sie diese Aufgabe nie ohne ein Gefühl der Unzulänglichkeit würde ausfüllen können. Wie sollte sie sich auch nur im Entferntesten als qualifizierte Mutter betrachten in dem Bewusstsein, dass sie selbst ebenso mit Makeln behaftet war wie ihr Baby perfekt? Von einem Augenblick zum anderen konnte etwas passieren - ein Erdbeben, ein Grippevirus, ein Schnuller, der in den Rinnstein fiel. Sie schaute in das Gesichtchen ihrer Tochter und sah alle erdenklichen Unfälle, die sich ereignen konnten. Aber dann klärte sich ihr Blick, und sie sah nur noch Liebe, einen Quell der Liebe, unergründlich und so furchterregend, dass man unwillkürlich die Luft anhielt,
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