Die Wahrheit der letzten Stunde
Leben, meine besten Freundinnen, sind meine Mutter und meine Tochter. Vor ein paar Wochen hätte ich fast die eine verloren, und in ein paar Tagen werde ich möglicherweise die andere verlieren.
»Du brauchst mich, keine Frage. Aber ihn brauchst du auch. Und ich dachte mir, das wäre der beste Weg, euch zus ammenzubr ingen.«
Methodisch packt meine Mutter Schuhpaare nebeneinander in den Koffer. Sie ist wunderschön, sanft und doch mit einem stählernem Rückgrat ausgestattet. Wenn ich alt bin, möchte ich sein wie sie. »Du bist die Beste«, sage ich leise.
2. Dezember 1999
Am Abend vor der Verhandlung isst Joan bei uns zu Abend. Hinterher räumen Faith und meine Mutter den Tisch ab, während meine Anwältin und ich uns in mein Atelier im Keller zurückziehen, um ungestört miteinander reden zu können. Wieder einmal gehen wir meine Zeugenaussage durch, bis Joan schließlich sicher ist, dass ich im Zeugenstand meine Sache gut machen werde. Dann klemmt sie die Absätze über die Sprosse unten an ihrem Barhocker und mustert mich eingehend. »Sie wissen, dass das kein Spaziergang für Sie wird.«
Ich lache. »Soviel ist sogar mir klar. Ich wüsste tausend Orte, an denen ich morgen lieber wäre als in diesem Gerichtssaal.«
»Das meine ich nicht, Mariah. Ich meine, was die Leute erzählen werden. Colin wird sich richtig mies benehmen. Und Metz wird eine ganze Latte anderer Zeugen vorführen, die er dahingehend vorbereitet hat, Sie aussehen zu lassen wie einen traurigen Mutterersatz.«
Nicht Ian, denke ich und frage mich gleich darauf, ob ich mir da wirklich so sicher bin.
»Ganz zu schweigen davon, was er im Zeugenstand mit Ihnen anstellen wird. Er wird versuchen, Ihnen Fallen zu stellen und sie zu verwirren, damit Sie aussehen wie die Geistesgestörte, als die seine Zeugen Sie zuvor bereits porträtiert haben.« Sie beugt sich zu mir vor. »Lassen Sie sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen. Sagen Sie sich für die Dauer der Verhandlung, wenn Sie abends vom Gericht nach Hause fahren, immer wieder, dass Malcolm Metz Sie gar nicht kennt. Für ihn sind Sie kein Mensch, kein Individuum, sondern nur Mittel zum Zweck.«
Ich blicke zu Joan auf und versuche zu lächeln. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich habe mir in letzter Zeit ein dickeres Fell zugelegt.« Aber trotzdem lege ich die Arme um mich, als würde ich plötzlich frieren, als hätte ich Angst davor, auseinanderzubrechen.
Um halb elf läutet es an der Tür. Als ich, auf ein Blitzlichtgewitter gefasst, öffne, steht Colin vor mir, so verlegen wie ich schockiert bin.
»Können wir reden?«, fragt er nach einem Moment angespannten Schweigens.
Obwohl ich ihn lieber wegschicken oder an meine Anwältin verweisen möchte, nicke ich. Immerhin waren wir jahrelang verheiratet, und irgendwie denke ich immer noch, dass das zählt. »Also gut. Aber Faith schläft schon, sei also leise.«
Als ich durch den Flur vorausgehe, frage ich mich, was er wohl denken mag: Was hat sie mit diesem Photo von den Anden gemacht? Waren die Fliesen immer schon so dunkel? Was ist es wohl für ein Gefühl, in sein altes Zuhause zurückzukommen und es nicht wiederzuerkennen?
Er zieht einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor, dreht ihn um und setzt sich rittlings hin. Ich kann Joan fast wettern hören, dass ich nicht ohne meinen Anwalt mit ihm reden soll. Aber stattdessen lächle ich halbherzig und ziehe den Kopf ein. »Also dann, rede.«
Colin atmet stoßweise aus, und die Luft entweicht aus seinen Lungen wie ein kräftiger Windstoß. »Das macht mich fertig.«
Was? Der Stuhl? Hier in seinem alten Haus zu sein? Jessica? Ich?
»Weißt du, warum ich mich in dich verliebt habe, Rye?«
Die Arbeitsplatte ist direkt hinter mir. Ich grabe mit aller Kraft die Fingernägel in die Unterseite. »Bist du auf Anraten deines Anwalts hier?«
Der schockierte Ausdruck auf Colins Gesicht ist echt. »Gott, nein. Glaubst du das wirklich?«
Ich starre ihn an. »Ich weiß nicht mehr, was in deinem Kopf vorgeht, Colin.«
Er steht auf, tritt vor das Gewürzregal und fährt mit einem Finger über jedes Glas. Anis, Basilikum, Koriander, Selleriesalz, gemahlener roter Pfeffer, Dill. »Du hast auf der Treppe der Schulbibliothek gesessen«, fährt er fort, »und ich kam mit ein paar Jungs aus dem Team vorbei. Es war ein traumhafter Frühlingstag, aber du hast gelernt. Du hast immer nur gelernt. Ich sagte, wir wollten etwas trinken gehen, ob du mitkommen wolltest?« Er blickt zu Boden und
Weitere Kostenlose Bücher