Die Wahrheit der letzten Stunde
beruhigt sich Faith.
Die Sanitäter treffen ein, und Colin tritt zurück, um sie Faith versorgen zu lassen. Ich sehe zu, wie diese Leute meiner Tochter den Puls fühlen und feststellen, was ich bereits vermutet habe: der Blutdruck ist in Ordnung, die Pupillen reagieren normal, aber die Blutung lässt sich nicht stoppen. Immerhin erlebe ich das nicht zum ersten Mal. Ich fühle, wie Colins Hand sich über meine legt wie ein Handschuh. »Wir können im Krankenwagen mitfahren«, sagt er. »Colin…«
»Hör zu«, sagt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Es ist mir egal, was vor Gericht passiert. Wir sind beide ihre Eltern. Wir werden beide mitfahren.«
Ich möchte allein mit Dr. Blumberg sprechen, aber andererseits möchte ich auch, dass Colin aus seinem Mund das hört, was er mir bereits gesagt hat. Ich möchte Colin meine Hand entziehen und völlig auf mich gestellt sein. Ich sehne mich danach, mit Ian zu sprechen. Aber Colin hat schon immer Macht über mich gehabt, so wie der Mond über die Gezeiten, und so folgen meine Füße ihm aus reiner Gewohnheit in den Krankenwagen, wo ich so dicht neben ihm sitze, dass seine Schulter an meine stößt, während ich auf die gewundenen Infusionsschläuche starre, die an meine Tochter angeschlossen sind.
Colin und ich sitzen nebeneinander auf einer hässlichen Stahlrohrcouch im Wartezimmer der Notaufnahme. Faith’ Blutungen wurden inzwischen stabilisiert, und sie wurde zum Röntgen gebracht. Der Notarzt hat nach einem Blick in ihr Patientenblatt Dr. Blumberg verständigt.
Colin war die letzte halbe Stunde beschäftigt. Er hat die Fragen der Sanitäter und Ärzte beantwortet, ist rastlos auf und ab gegangen, hat drei Zigaretten draußen vor der Glastür zur Notaufnahme geraucht, sein Profil vom Mondlicht vergoldet. Schließlich ist er wieder hereingekommen und hat sich neben mich auf das Sofa fallen lassen, auf dem ich zusammengesunken sitze, den Kopf in die Hände gestützt. »Glaubst du …«, fragt er, ganz leise, als könnte es den Gedanken beflügeln, ihn auch nur auszusprechen, »… dass sie das macht, um Aufmerksamkeit zu erregen?«
»Was macht?«
»Sich verletzen.«
Bei diesen Worten blicke ich auf. »Das glaubst du wirklich von Faith?«
»Ich weiß gar nichts, Mariah. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Die Ankunft von Dr. Blumberg verhindert den sich anbahnenden Streit. »Mrs. White. Was ist passiert?«
Colin streckt dem Arzt die Hand entgegen. »Ich bin Colin White. Faith’ Vater.«
»Guten Abend.«
»Soweit ich mitbekommen habe, ist das nicht das erste Mal, dass Sie Faith untersuchen«, sagt Colin. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich bezüglich ihres Krankheitsbildes auf den neuesten Stand bringen würden.«
Dr. Blumberg wirft mir einen raschen Blick zu. »Ich bin sicher, dass Mrs. White …«
»Mrs. White und ich sind geschieden«, fällt Colin ihm ins Wort. »Ich möchte es gerne von Ihnen hören.«
»Also gut.« Er setzt sich uns gegenüber und legt die Hände auf die Knie. »Ich habe Faith bereits mehreren Tests unterzogen, ohne eine medizinische Erklärung für ihre spontanen Blutungen finden zu können.«
»Aber es handelt sich eindeutig um Blut?«
»O ja. Das wurde im Labor untersucht.«
»Und bringt sie sich die Wunden selbst bei?«
»Es sieht nicht danach aus«, entgegnet Dr. Blumberg. »Dann könnte jemand anders sie ihr beigebracht haben?« will Colin wissen. »Wie meinen?«
»Hat jemand Faith verletzt?«
Blumberg schüttelt den Kopf. »Das glaube ich nicht, Mr. White. Nicht so, wie Sie das meinen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, schreit Colin den Arzt an. Er hat Tränen in den Augen. »Woher zum Teufel wollen Sie das wissen? Hören Sie … ich habe gesehen, wie sie eine Art Anfall bekam und ohne ersichtlichen Grund anfing zu bluten. Ich bin gut krankenversichert. Erzählen Sie mir nicht, dass es dafür keine medizinische Erklärung gibt. Veranlassen Sie eine Kernspintomographie, alle nur erdenklichen Bluttests oder was auch immer. Sie sind der Arzt. Es ist Ihr Job, herauszufinden, was ihr fehlt, und ich will, dass meine Tochter so lange hierbleibt, bis Sie wissen, was ihr fehlt. Wenn Sie sie nämlich vorher entlassen und sie wieder einen solchen Anfall bekommt, werde ich Sie wegen Ärztepfuschs verklagen.«
Ich muss an eine Untersuchung denken, von der Dr. Blumberg mir erzählt hat - von Ärzten, die um die Jahrhundertwende einen Mann mit Stigmata in ein Krankenhaus aufnahmen und ihm
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