Die Wahrheit der letzten Stunde
Jessica White, eine neue Familie mit einem Vater, der Faith ganz offensichtlich ehrlich liebt. Aber Kenzie bringt es kaum über sich, einem Mann das Sorgerecht für sein unmündiges Kind zuzusprechen, nachdem er einen so krassen Treuebruch begangen hat. Auf der anderen Seite steht Mariah White, die heute noch die emotionale Last aus der Vergangenheit mit sich herumschleppt — da ist Kenzie sich ganz sicher! - und sich selbst, Faith oder Kenzie etwas vorlügt. Wenn sie Faith in der Obhut ihrer Mutter belässt, muss sie das in Unkenntnis der ganzen Geschichte tun. Und doch ist auch für sie unübersehbar, dass Mariah White, die einstmalige verkörperte Unsicherheit, begonnen hat, sich ehrlich zu ändern. Außerdem ist offenkundig, dass Faith sehr an ihrer Mutter hängt. Aber ist es auch eine gesunde Beziehung, oder fühlt Faith sich berufen, sich um ihre Mutter zu kümmern, die ihrerseits nicht in der Lage ist, sich um sie zu kümmern?
Kenzie stellt ihr Weinglas ab und wartet, bis der Cursor am oberen linken Bildschirmrand erscheint. Sie schaltet den Rechner ab und betet um ein Wunder.
Einige trauernde Verwandte stehen am Bett der zweiundachtzigj ährigen Mamie Richardson. Seit einem Schlaganfall in der vergangenen Woche liegt sie im Koma. Die Ärzte haben ihnen das große Ausmaß der Hirnschädigungen erklärt. Die Familie ist zusammengekommen, um gemeinsam die lebenserhaltenden Apparate abzustellen.
Mamies Tochter sitzt auf einer Seite des Bettes auf der Intensivstation, Mamies sechzigjähriger Ehemann auf der anderen. Er streichelt ihre altersfleckige Hand, als würde das Glück bringen, ohne die Tränen zu beachten, die einen kleinen nassen Fleck auf der Decke über Mamies dürren Beinen hinterlassen haben.
Die Tochter blickt auf den Arzt neben der Herz-Lungen-Maschine und dann auf ihren Vater. »Bist du soweit, Daddy?« Der ältere Mann nickt nur stumm.
Sie nickt dem Doktor zu und erstarrt, als sie plötzlich die schrille Stimme ihrer Mutter hört. »Isabelle Louise!«, ruft Mamie und setzt sich in ihrem Bett auf. »Was um alles in der Welt machst du da?«
»Mutter?«, haucht die jüngere der beiden Frauen atemlos.
»Mamie!«, ruft ihr Mann aus. »O Gott. Gott! Mamie!«
Die alte Frau reißt sich den Beatmungsschlauch aus der Nase. »Was ist das für ein Ding, an das du mich hast anschließen lassen, Albert?«
»Leg dich hin, Mutter. Du hattest einen Schlaganfall.« Die Tochter blickt zu dem Arzt auf, der erst schockiert einen Schritt zurückgewichen ist und jetzt ans Bett tritt, um Mamie zu untersuchen.
»Holen Sie eine Schwester«, befiehlt der Arzt dem Ehemann. Aber es dauert eine Weile, ehe dieser reagiert, weil er den Blick nicht losreißen kann von der Frau, die Jahrzehnte seines Lebens mit ihm geteilt hat und mit der auch ein großer Teil seiner selbst gestorben wäre. Dann hastet er mit der Energie eines viel jüngeren Mannes auf den Flur und ruft nach einer Krankenschwester, die zu seiner Frau kommen soll, in das Zimmer, das zufällig direkt über dem von Faith White liegt.
Mitten in der Nacht bewegt Faith einen Arm, der quer über meinem Gesicht landet. Die Kinderstation hält Betten für Eltern bereit, die bei ihren Kindern übernachten, aber ich habe es vorgezogen, mich zu Faith ins Bett zu legen, um sie beschützen zu können, um da zu sein, falls sie wieder Schmerzen hat.
Faith wälzt sich unruhig von einer Seite auf die andere, und ich drücke ihr einen Kuss auf die Stim. Sofort zucke ich zurück - sie glüht, ist heißer, als ich es je an ihr erlebt habe. Ich greife an die Wand über dem Kopfende des Bettes und drücke den Rufknopf.
»Ja?«
»Meine Tochter hat Fieber.«
»Wir kommen sofort.«
Als die Schwestern kommen und Faith mit Thermometern und alkoholgetränkten Schwämmen traktieren, zeigt sie keinerlei Reaktion. Jede Bewegung der Schwestern wird von einer seltsamen Melodie begleitet; ich brauche einen Moment, um mir darüber klar zu werden, dass es sich um ein rhythmisches leises Stöhnen handelt, das tief aus Faith’ Innerem kommt.
»Können Sie nicht Dr. Blumberg anpiepen?«
»Mrs. White«, sagt eine der Schwestern, »lassen Sie uns einfach unsere Arbeit tun, okay?«
Aber ich bin ihre Mutter, will ich antworten. Warum lassen Sie mich nicht die meine tun? »Neununddreißigfünf«, sagt eine der Schwestern leise.
39,5? Ich denke an Blutvergiftung, an spinale Meningitis, Krebs. Aber wenn es etwas Ernstes wäre, hätten das doch die Bluttests am Abend zeigen
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