Die Wahrheit der letzten Stunde
schüttelt den Kopf. »Und du bist mitgekommen. Einfach so. Du hast deine Bücher auf der Treppe liegen lassen, als wäre dir scheißegal, ob sie jemand klaut, und bist mit mir gekommen.«
Ich lächle. Das Wirtschafts-Lehrbuch habe ich nie zurückbekommen, aber ich bekam Colin, und damals dachte ich, das wäre ein mehr als guter Tausch. Ich nehme das kleine Glas Lorbeerblätter in die Hand, das Colin auf die Arbeitsplatte gestellt hat, und stelle es zurück an seinen Platz. »Ich hätte weiterlernen sollen.«
Colin berührt leicht meinen Arm. »Meinst du das im Ernst?«
Ich fürchte mich davor, ihn anzusehen. Und so starre ich auf seine Hand auf meinem Arm, bis er sie wegnimmt. »Du wolltest niemanden, der dir folgt, Colin. Du wolltest jemanden, den du erobern musstest.«
»Ich habe dich geliebt«, entgegnet er heftig.
Ich zucke nicht mit der Wimper. »Wie lange?«
Er weicht einen Schritt zurück. »Du hast dich verändert«, sagt er vorwurfsvoll. »Du bist nicht mehr so wie früher.«
»Weil ich nicht wie ein Häufchen Elend dasitze und mir die Augen ausweine? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.«
Mir ist bewusst, dass ich zu weit gegangen bin. »Wie lange wird es diesmal dauern, Rye?«, knurrt Colin. »Wie lange, bis du anfängst, im Medizinschränkchen nach einem Ausweg zu suchen? Oder die sechs Stunden, die Faith in der Schule ist, die Rasierklingen anstarrst? Wie lange, bis du sie im Stich lässt?«
»So wie du?«
»Ich werde sie nicht im Stich lassen«, entgegnet Colin. »Nie mehr. Hör zu, ich habe einen Fehler gemacht, Rye. Aber das war etwas, das nur dich und mich etwas angeht. Ich bin immer hundertprozentig für Faith da gewesen. Was macht es, wenn du Faith jeden Morgen den Kopf tätschelst und ihr sagst, wie lieb du sie hast? Bis zu jenem Tag im August warst nicht du der Fels in ihrem Leben, sondern ich. Glaubst du, sie hat vergessen, wie es war, als sie noch klein war und ihre Mutter ganze Nachmittage mit Kopfschmerzen im Bett lag oder um eine kräftige Dosis Haldol auszuschlafen? Oder dass sie lieber mit ihrem Scheißpsychiater gesprochen hat, als sie in die Vorschule zu bringen?« Er zeigt mit einem zitternden Finger auf mich. »Du bist keinen Deut besser als ich.«
»Der Unterschied zwischen uns ist der, dass ich nie behauptet habe, das zu sein.«
Colin sieht mich mit solcher Wut an, dass ich mich unwillkürlich frage, ob ich in Gefahr bin. »Du wirst sie mir nicht wegnehmen.«
Ich hoffe, er merkt nicht, wie stark ich zittere. »Du wirst sie mir nicht wegnehmen.«
Wir haben uns beide derart in unseren Zorn hineingesteigert, dass wir Faith erst bemerken, als sie einen zittrigen Atemzug macht.
»Liebes. Haben wir dich geweckt?«
»Schätzchen.« Ein Lächeln erhellt Colins eben noch grimmige Züge. »Hallo.«
Etwas in ihrem Blick hält mich zurück, Sekunden bevor ich ihre Schulter berühren will. Faith steht da wie erstarrt, die Augen vor Angst weit aufgerissen, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und kalkweiß im Gesicht. »Mami?«, sagt sie mit bebender Unterlippe. »Papa?«
Aber noch bevor wir etwas sagen können, um sie zu beruhigen, sehen wir das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorquillt.
Sekunden später windet Faith sich auf dem Boden und schreit Worte, die ich nicht verstehe. »Eli! Eli!«, ruft sie, und obwohl ich nicht weiß, wer das ist, versichere ich ihr, dass er unterwegs ist. Ich versuche, zu verdrängen, dass sie diesmal auch an der Seite blutet. Ich drücke ihre Schultern auf den Boden, damit sie sich nicht verletzt, während ihre um sich schlagenden Hände blutige Schlieren auf den Fliesen hinterlassen.
Ich höre, wie Colin mit unnatürlich hoher Stimme panikartig in sein Handy spricht. »Sechsundachtzig Westvale Hill, erste Zufahrt auf der linken Seite.« Nachdem er aufgelegt hat, kniet er sich neben mich auf den Boden. »Der Krankenwagen ist unterwegs.« Er legt die Wange an Faith’, was sie tatsächlich einen Moment zu beruhigen scheint. »Papa ist da. Papa kümmert sich um dich.«
Faith erschauert und windet sich dann wieder vor Schmerzen. Ihre Stimme klingt wie ein Fluss, Silben und Grunzlaute, die sich zu lautem Schluchzen steigern.
Colin ist einen Moment wie gelähmt. Dann handelt er, zieht sein Sakko aus und legt es ihr um die Schultern. Er drückt sie an sich und wiegt sie so wie damals, als sie noch ein Baby war. Er singt ihr ein Einschlaflied vor, das ich Jahre nicht mehr gehört habe, und zu meiner Überraschung entspannt und
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