Die Wahrheit der letzten Stunde
hohe Wahrscheinlichkeit weiterer Episoden starker Labilität, und niemand kann vorhersagen, was den nächsten Schub auslösen wird.«
»Danke, Doktor.« Metz nickt Joan zu. »Ihre Zeugin.«
Joan erhebt sich, bleibt aber an ihrem Platz stehen. »Dr. DeSantis, sind Sie Colin Whites Therapeutin?«
Das Gesicht der Psychiaterin unter dem toupierten schwarzen Haar färbt sich tiefrosa vor Empörung. »Ich wurde in diesem Fall beratend konsultiert.«
»Stimmt es nicht, Dr. DeSantis, dass Sie am neunundzwanzigsten Oktober, nur zwei Tage nach der ersten Anhörung, wegen des Sorgerechtsantrags zum ersten und einzigen Mal mit Colin White gesprochen haben?«
»Wenn Sie es sagen.«
»Aha. Und darf ich fragen, Doktor, bei wie vielen Prozessen Sie bisher als Zeugin aufgetreten sind?«
»In über fünfzig«, entgegnet die Psychiaterin stolz.
»Und in wie vielen dieser Prozesse wurden Sie von Mr. Metz als Gutachterin hinzugezogen?«
»Siebenundzwanzig.«
Joan nickt nachdenklich. »Haben Sie in einem dieser siebenundzwanzig Prozesse einen seiner Mandanten als psychisch labil eingestuft?«
»Nein.«
»Lassen Sie mich rekapitulieren: Mr. Metz hat Sie wieder einmal beauftragt, und - verbessern Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, Dr. DeSantis - Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Expertin seinen Mandanten für belastbar und stabil befunden und meine Klienten als hysterisch.«
»Ich würde es nicht so krass formulieren …«
»Ja oder nein, Doktor?«
»Ich habe Mr. Metz’ Mandanten als emotional stabiler befunden als Ihre Klientin, ja.«
»Was für eine Überraschung«, entgegnet Joan hierauf zynisch.
Die Krankenhauskapelle ist ein trauriger kleiner Raum, der früher einmal als Besenkammer gedient hat. Es gibt sechs Bänke, drei auf jeder Seite eines kleinen Podiums, über dem ein Kruzifix hängt. Die Kapelle ist offiziell keiner speziellen Religion zugedacht, aber irgendwie muss dieses Symbol des Christentums bei der Einrichtung der Gebetsstätte übersehen worden sein. Vater MacReady kniet auf dem Boden, und während er stumm ein Vaterunser rezitiert, sinkt ihm das Herz immer tiefer und tiefer.
Er versucht, das Geräusch der sich öffnenden Tür zu ignorieren, aber das Knarren ist unglaublich laut, und als Geistlicher fühlt er sich verpflichtet, einer trauernden Seele bei Bedarf beizustehen. Er steht auf, klopft sich den Staub von den Knien seiner Jeans und dreht sich um.
Zu seiner Überraschung sieht er Rabbi Solomon, der das Kreuz anstarrt, als handle es sich um eine Klapperschlange kurz vor dem Zubeißen. »Konfessionslos, von wegen.«
»Rabbi«, sagt Vater MacReady.
Sie mustern einander abschätzig; zwar sind sie sich nie begegnet, wissen aber anhand der Gerüchteküche, dass sie beide sich für Faith White einsetzen.
Rabbi Solomon nickt ihm zu.
»Haben Sie etwas gehört?«
»Ich war oben auf der Kinderstation. Sie wollten mich nicht ins Zimmer lassen. Es geht etwas vor.«
»Etwas Gutes?«
Der Rabbi schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, nein.«
Die beiden Männer stehen eine Weile in nachdenklichem Schweigen da. »Brauchen Juden nicht eine Mindestanzahl von Personen zum Beten?«, fragt MacReady nach einer Weile.
Solomon lächelt. »Eigentlich geht es nicht um eine Mindestanzahl. Nicht Minimum, sondern Minjan, zehn Männer. Das ist die kleinstnotwendige Gruppe zum Aufsagen bestimmter Gebete.«
»Einigkeit macht stark, was?«
»Genau«, entgegnet der Rabbi. Und ohne ein weiteres Wort setzen Priester und Rabbi sich nebeneinander auf eine Bank und fangen an, still miteinander zu beten.
»Das ist der Stand der Dinge«, erklärt ein glattrasierter junger Arzt Millie. »Sie leidet an Nierenversagen. Ohne Dialyse wird ihr ganzer Blutkreislauf vergiftet.«
Millie starrt ihr Gegenüber einen Moment verständnislos an. Wie kann dieses Bürschchen, das sogar noch jünger ist als Mariah, ihr erzählen, was sie zu tun hat? In der letzten halben Stunde hat es in Faith’ Zimmer gewimmelt von Krankenschwestern, Ärzten und Pflegern, die glitzernde fremdartige Instrumente hereingekarrt und ihre Enkeltochter mit Haken, Schläuchen und einer Gesichtsmaske versehen haben, bis sie schließlich aussah wie ein Astronaut kurz vor seiner Reise in unbekannte Welten.
Nicht zum ersten Mal wünscht Millie, ihr Verstand und nicht ihr Herz wäre wiederbelebt und verjüngt worden. Sie starrt unverwandt auf Faith, als könnte sie ihre Enkeltochter kraft ihres Willens dazu bringen, die Augen aufzuschlagen, zu lächeln und
Weitere Kostenlose Bücher