Die Wahrheit der letzten Stunde
ihnen zu versichern, es wäre alles nicht so schlimm, wie sie glaubten. Wo ist dein Gott jetzt?, fragt sie sich verzweifelt.
Erst vor einer Stunde hat Mariah vom Gericht aus angerufen, und Millie konnte ihr versichern, dass die Lage hier im Krankenhaus unverändert ist. Wie war es möglich, dass Faith’ Zustand sich in so kurzer Zeit so drastisch verschlechtert hatte? »Ich kann das nicht entscheiden«, windet sich Millie. »Ihre Mutter …«
»Ist nicht hier. Wenn Sie die Einwilligungserklärung nicht unterschreiben, wird die Kleine sterben.«
Millie fährt sich mit der Hand über die Augen, nimmt dann den Kugelschreiber, den der Arzt ihr hinhält wie eine Friedenspfeife, und gibt ihre Einwilligung.
Ian betritt den Zeugenstand, und es kommt zu einem kleinen Tumult, als der Gerichtsdiener mit der üblichen Bibel vor ihn tritt. Er lacht und blickt dann lächelnd an die Decke. »Okay, ihr alle. Macht euch bereit für den bevorstehenden Blitzschlag.«
Metz tritt mit wiegendem Gang auf seinen Zeugen zu. »Bitte nennen Sie für das Protokoll Namen und Adresse.«
»Ian Fletcher, Brentwood, Kalifornien.«
»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt, Mr. Fletcher?«
»Wie hoffentlich alle wissen, bin ich von Beruf Atheist. Zurzeit bin ich Koproduzent und Moderator einer Fernsehshow, in der ich meine Ansichten kundtue. Darüber hinaus bin ich Autor von drei Sachbüchern, die auf der Bestsellerliste der New York Times stehen. Ach ja, und einmal habe ich auch als Komparse in einem Film mitgewirkt.«
»Würden Sie dem Gericht erklären, um was für eine Art von Fernsehsendung es sich handelt, nur für den Fall, dass jemand hier sie nicht kennt?«
»Also, meine Sendung wurde schon als die Antithese zu Billy Graham bezeichnet. Ich nutze das Medium Fernsehen, um mit Hilfe theoretischer und wissenschaftlicher Untersuchungen zu beweisen, dass es keinen Gott gibt.«
»Glauben Sie an Gott, Mr. Fletcher?«
»Das ist etwas schwierig, wenn man Atheist ist.« Im Zuschauerraum wird hier und da leise gelacht.
»Welche angeblichen religiösen Wunder haben Sie in den vergangenen zwei Monaten untersucht?«
Ian schlägt die Beine übereinander. »Eine blutende Statue drüben in Massachusetts, einen Baum in Maine und dann in der letzten Zeit Faith White.«
»Warum interessieren Sie sich für diesen speziellen Fall?«
Ian zuckt die Achseln. »Sie hat angeblich Gott gesehen, wirkt Wunder und weist Stigmata auf. Ich wollte beweisen, dass sie eine Betrügerin ist.«
Metz holt zum entscheidenden Schlag aus. »Mr. Fletcher, können Sie uns verraten, was Sie im Laufe Ihrer Recherchen herausgefunden haben?«
Ian betrachtet den Anwalt eine Weile schweigend und geht in Gedanken noch einmal die Aussage durch, die er gestern noch mit dem Anwalt geprobt hat. Ein breites Lächeln erhellt seine Züge. »Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Metz, nicht allzu viel.«
Metz, der schon seine nächste Frage abschießen wollte wie einen Dartpfeil, stutzt. »Wie bitte?«
Ian beugt sich weiter zum Mikrophon vor. »Ich sagte >Nicht allzu viel<.« Er nickt dem Gerichtsschreiber zu. »Haben Sie das?«
Die Zuschauer, denen nicht entgangen ist, dass sich zwischen dem Anwalt und seinem berühmten Zeugen etwas anbahnt, werden unruhig. »Sie meinen, Sie haben nicht viele dieser angeblichen Wunder gesehen«, paraphrasiert Metz.
»Einspruch«, ruft Joan. »Er beeinflusst den Zeugen.«
»Stattgegeben.«
»Was ich meine, Mr. Metz«, ergreift Ian wieder das Wort, »ist, dass ich nichts finden konnte, was die These gestützt hätte, dass Faith White eine Betrügerin ist.«
Metz fängt an zu zittern; panisch fragt er sich, ob der Richter oder Joan Standish es bemerkt haben. Er denkt zurück an sein erstes Gespräch mit Fletcher, bei dem Fletcher explizit erklärt hatte, es gäbe da etwas über Faith White zu berichten, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht enthüllen wolle. Er denkt an Fletchers Zeugenvernehmung, daran, wie er sich bei fast jeder Frage auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen hat. Damals hatte Metz das noch amüsant gefunden, da es Joan Standish sichtlich geärgert hatte. Jetzt aber wird ihm schlagartig klar, dass Ian deshalb nichts gesagt hat, um vor Gericht seiner eidlichen Aussage nicht zu widersprechen. Was er Metz unter vier Augen auszusagen versprochen hat, war alles gelogen … und Metz kann nichts dagegen tun. Fletcher kann aufstehen und die Nationalhymne singen, we: ihm danach ist, solange seine eidliche Aussage korrekt ist, wird ihn
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