Die Wahrheit der letzten Stunde
seiner Meinung als vom Gericht bestellter Arzt in den meisten Fällen von einem privaten Psychiater widersprochen wird, der für einen Haufen Geld das genaue Gegenteil behauptet, aber das schmälert sein Vergnügen nicht. Er glaubt nicht nur an das Rechtssystem, er ist auch voll des Stolzes, Teil dieses Systems zu sein.
Auch spielt er gern im Zeugenstand Spielchen mit sich selbst. Manchmal beobachtet er die Anwälte und erstellt in Gedanken eine Diagnose. Als er Malcolm Metz auf sich zukommen sieht, denkt er: Ganz offensichtlich größenwahnsinnig. Vielleicht sogar ein Gott-Komplex. Er stellt sich Metz in einer weißen Robe mit langem weißen Bart vor und lacht in sich hinein.
»Wie schön, dass es Ihnen solch offenkundiges Vergnügen bereitet, hier zu sein, Dr. Orlitz«, beginnt Metz. »Haben Sie mit Colin White gesprochen?«
»Ja«, antwortet Orlitz und schaut in seinem kleinen salz-und-pfefferfarbenen Notizbuch nach, in dem er seine Beobachtungen zum vorliegenden Fall aufgeschrieben hat. »Meiner Einschätzung nach ist er emotional stabil und absolut in der Lage, einem Kind ein gutes und solides Zuhause zu bieten.«
Metz lächelt breit, und dazu hat er auch allen Grund. Orlitz weiß, dass längst nicht alle Anwälte das zu hören bekommen, was sie gerne hören wollen, wenn der Gerichtspsychiater seine Beurteilung kundtut. »Hatten Sie auch Gelegenheit, mit Mariah White zu sprechen?«
»Hatte ich.«
»Könnten Sie uns etwas über ihre psychiatrische Vorgeschichte erzählen?«
Orlitz blättert in seinen Notizen. »Sie wurde wegen suizidaler Depression vier Monate lang stationär in Greenhaven behandelt. Während ihres dortigen Aufenthaltes wurde sie mittels Psychotherapie und Antidepressiva behandelt. Wie Sie zweifellos wissen, Mr. Metz, handelte es sich bei ihrem Zustand um eine Reaktion auf eine extreme Stresssituation. Ihr Verstand hat sich in die Depression geflüchtet, um mit diesem Trauma fertig zu werden. Sie glaubte, sie hätte ihren Mann verloren, und ihre Ehe wäre am Ende.«
»Glauben Sie als Experte, dass Mariah White noch einmal eine solches psychisches Tief durchmachen könnte, Doktor?«
Orlitz zuckt die Achseln. »Möglich wäre es. Sie hat eine gewisse Neigung zu Reaktionen dieser Art.«
»Ich verstehe. Nimmt Mariah derzeit Medikamente, Doktor?«
Orlitz fährt mit dem Finger die Seite hinab. »Ja«, sagt er schließlich, als er den entsprechenden Eintrag findet. »Sie nimmt seit vier Monaten täglich zwanzig Milligramm Prozac.«
Metz wölbt die Brauen. »Wann wurde dieses Medikament verschrieben?«
»Am elften August. Von einem Dr. Johansen.«
»Am elften August. Wissen Sie zufällig, an welchem Tag Colin White seine Frau verlassen hat?«
»Soweit ich informiert bin, war das am zehnten August.«
»Hat Mariah White Ihrer Ansicht nach dieses Medikament verschrieben bekommen, weil sie der Stresssituation ohne nicht gewachsen gewesen wäre?«
»Höchstwahrscheinlich, aber das sollten Sie besser ihren behandelnden Psychiater fragen.«
Metz betrachtet ihn mit einem hinterhältigen Blicl »Doktor, hatten Sie auch Gelegenheit, sich mit Faith zu unterhalten?«
»Ja.«
»Hat sie auf Sie den Eindruck eines normalen kleinen Mädchens gemacht?«
»Normal ist ein sehr relativer Begriff«, entgegnet der Arzt lachend. »Vor allem, wenn es um ein Kind geht, das eine traumatisierende Scheidung hinter sich hat.«
»Hat es den Anschein, als würde Faith sich besonders um die Anerkennung ihrer Mutter bemühen?«
»Ja, aber das ist eine weitverbreitete Reaktion nach einer Scheidung. Das Kind hat solche Angst davor, es könnte auch vom zweiten Elternteil verlassen werden, dass es alles tun wird, um diesen an sich zu binden.«
»Könnte das so weit gehen, dass es das Verhalten dieses Elternteils imitiert?«
»Absolut«, bestätigt Orlitz. »Es kann sein, dass dieser Elternteil dieses Verhalten bewusst oder unbewusst fördert und das Kind gegen den anderen Elternteil einnimmt, indem es dieses zu bestimmten Verhaltensweisen ermutigt - das Kind wird somit gewissermaßen zu einem Pfand. Manche Spezialisten bezeichnen dieses auf eine Scheidung folgende Verhaltensmuster als Entfremdungssyndrom.«
»Das Kind zu bestimmten Verhaltensweisen ermutigen«, wiederholt Metz. »Interessant. Keine weiteren Fragen.«
Joan steht auf und knöpft ihre Kostümjacke zu. Sie kennt Metz gut genug, um zu wissen, dass er das Fundament für einen späteren Zeugen gelegt hat. »Fangen wir doch mit der Ermutigung zu
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