Die Wahrheit der letzten Stunde
Unbekannter.«
Joan trommelt mit den Fingern auf das Geländer des Zeugenstandes. »Haben Sie noch einmal mit Mr. Fletcher gesprochen, nachdem Sie herausgefunden hatten, dass das seine Nummer war?«
»Ich habe es versucht, aber …«
»Ja oder nein?«
»Nein.«
»Sie haben sich also auf seinen Tipp verlassen und das Beste daraus gemacht.«
»Ja.«
»Sind Sie in Greenhaven gewesen?«
»Ja«, antwortet Allen.
»Wo man Ihnen Einblick in Mariah Whites Patiente akte gewährt hat?«
»Nein. Ein Arzt bestätigte mir, dass sie dort Station behandelt worden ist.«
»Ich verstehe. War er seinerzeit Mariahs behandelnder Arzt?«
»Nein.«
»Hatte er Mariah während ihres Aufenthaltes dort zu irgendeinem Zeitpunkt behandelt?«
»Nein.«
»War er mit Einzelheiten ihres Falles vertraut?«
»Er kannte den Fall in seinen Grundzügen.«
»Danach habe ich nicht gefragt, Mr. McManus«, entgegnet Joan stirnrunzelnd. »Haben Sie im Laufe Ihrer gründlichen Nachforschungen herausgefunden, dass Mariah gegen ihren Willen von ihrem Mann in Greenhaven eingewiesen wurde?«
»Äh… nein…«
»Haben Sie recherchiert, dass ihr keine Gelegenheit gegeben wurde, zu versuchen, ihrer Depressionen mit alternativen Behandlungsmethoden Herr zu werden, bevor sie zwangseingewiesen wurde?«
»Nein.«
»Haben Sie in Erfahrung gebracht, dass Mariah White einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, weil ihr Mann sie am laufenden Band betrogen hat?«
»Nein«, entgegnet der Reporter leise.
»Haben Sie herausgefunden, dass das der Grund war für ihre Selbstmordabsichten?« Joan mustert McManus verächtlich. »Sie haben keinerlei grundsätzliche Fakten dieses Falles recherchiert, Mr. McManus. Sie haben geschlampt. Wie kommen Sie eigentlich auf den Gedanken, Sie wären ein guter investigativer Reporter?«
»Einspruch!«
»Ich ziehe die Frage zurück«, sagt Joan, aber da spielt es ohnehin schon keine Rolle mehr.
Als offensichtlich wird, dass Mariah sich so bald nicht beruhigen wird, regt der Richter eine einstündige Unterbrechung an. Noch bevor die Medienvertreter aufgestanden sind, hat Joan Mariah aus dem Saal geführt und steuert mit ihr die Damentoilette an. Dann hält Joan von innen die Tür zu, damit sie ungestört sind. »Mariah, Fletchers Zeugenaussage war gar nicht so schlimm, nicht einmal das mit dem Zeitungsartikel. Wenn wir an der Reihe sind, unsere eigenen Zeugen aufzurufen, wird sich schon niemand mehr daran erinnern.« Als Mariah hierauf nicht antwortet, geht Joan plötzlich ein Licht auf. »Es ist nicht das, was er gesagt hat«, stellt sie fest. »Es ist, dass er es überhaupt gesagt hat. Darum wussten Sie, dass er Metz im Zeugenstand in den Rücken fallen würde. Heiland, Sie lieben ihn.«
»So einfach ist das nicht…«
»Das ist es doch nie!«
Mariah winkt sie fort. »Ich wäre gerne einen Moment allein.«
Die Anwältin mustert sie forschend. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist?«
»Haben Sie Angst, ich könnte eine Rasierklinge im Ärmel versteckt haben?«, fragt Mariah bitter. »Lassen Sie sich auch schon von den Zeugenaussagen dieses Tages be einflussen?«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich …«
»Es ist gut, Joan. Bitte.«
Die Anwältin nickt und geht hinaus. Mariah tritt vo das Waschbecken und betrachtet sich im Spiegel. Ihre Au gen sind verquollen und gerötet; ihre Nase läuft. Nebe ihr spiegelt sich ihr Bild im Handtuchspender, sodass i verweintes Gesicht vielfach zurückgeworfen wird.
Sie hätte es wissen müssen. Vielleicht hat Metz ja Recht, vielleicht ist es wirklich so, dass der Schmerz, wenn man ihn erst einmal erfahren hat, weiß, wo er eine finden kann. Er schleicht sich im Dunkeln an, lauert einem auf, wenn man am wenigsten damit rechnet, und springt einen an, ohne einem Zeit zu lassen, sich für den Kampf zu wappnen.
Ian muss sich königlich über sie amüsiert haben, so naiv wie sie gewesen ist. Wie hat sie nur glauben können, dass sein Interesse an ihr mehr wäre als eine List, um an Faith heranzukommen?
Diese unvergesslichen Nächte mit ihm, diese Worte, die sie verzaubert und in jemanden verwandelt haben, der sie schon immer sein wollte — für Ian waren es nur Worte, nur Nächte. Alles nur Pflichtprogramm.
Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft zwingt sie sich, wieder in den Spiegel zu sehen. Sie wird sich zusammenreißen und in diesen Gerichtssaal zurückkehren. Sie wird all das sagen, was sie und Joan geprobt haben. Sie darf sich das Sorgerecht für ihre Tochter
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