Die Wahrheit der letzten Stunde
Reportern.« Er wirft einen Blick auf McManus. »Manchmal dienen wir sogar als jene Quellen, die andere Journalisten sich zu nennen weigern. Ich wollte Miss White nichts Böses, da mein Augenmerk damals noch gar nicht ihr galt. Mir ging es darum, ihre Tochter als Betrügerin zu entlarven, ganz egal, wie.«
»Und was hat sich daran geändert?«, fragt Joan.
»Heute kenne ich sie«, antwortet Ian leise.
Joan blickt von ihrer Mandantin zu Ian und hält die Luft an. »Keine weiteren Fragen.«
Metz ist bereits aufgestanden. »Sie konnten nichts finden? Nicht das geringste Negative über Faith White?« i?
»Ich habe meine Untersuchung abgebrochen«, erwidert Ian mit stählernem Blick.
»Wollen Sie behaupten, Faith Whites Visionen wären authentisch?«
Ian denkt gründlich nach, bevor er antwortet. »Ich will sagen, dass Faith White ein außergewöhnliches kleines Mädchen ist, das meiner Meinung nach nicht gezielt Lügen erzählt.«
»Aber Mr. Fletcher, Sie haben sich selbst mehrfach als Atheist bezeichnet. Soll das heißen, dass Sie plötzlich doch an Gott glauben?«
Ian erstarrt. Er realisiert, was Metz ihm angetan hat: Er kann nur dann eine Versöhnung mit Mariah erreichen, wenn er seine eigene Karriere dafür opfert. Wenn er Faith als Wunderheilerin bestätigt, wird der Anwalt Beweise verlangen, und Ian möchte keinesfalls seinen Bruder und seine klaren Momente ins Spiel bringen. Er wirft einen Blick auf Mariah, die ihn eindringlich mustert und auf seine Antwort wartet.
Es tut mir leid, denkt er.
»Mr. Fletcher? Glauben Sie an Gott?«
Ian wölbt die Brauen und setzt die charmante Maske des Fernsehmoderators auf. »Darüber hat die Jury noch nicht befunden«, antwortet er und spielt damit seinem Publikum in die Hände, schaut in die grinsenden Gesichter der Kollegen anstatt auf jenes, das wirklich zählt.
Joan bittet um eine kurze Unterbrechung. Mariah ist bemerkenswert gefasst, wenn auch unnatürlich still, und das beunruhigt Joan noch mehr, als wenn ihre Mandantin einen Tobsuchtsanfall bekäme. »Ich kann eine Vertagung beantragen. Ich kann dem Richter sagen, Sie wären krank.«
»Ich möchte nur eine Stunde. Ich muss zu Faith«, erklärt sie. »Ich war den ganzen Tag nicht bei ihr.«
Joan war die richterliche Verfügung dieses Morgens völlig entfallen. Aufgrund der Verwirrung, die die Zeugenaussagen gestiftet haben, hatte sie noch keine Gelegenheit, Mariah hiervon in Kenntnis zu setzen. »Das geht nicht.«
»Aber wenn Sie den Richter bitten …«
»Sie können weder jetzt noch später zu Faith. Richter Rothbottam hat eine Verfügung erlassen, die Ihnen für die Dauer der Verhandlung jeden Kontakt zu Faith untersagt.«
Es beginnt wie eine Lawine in Zeitlupe; ganz allmählich verliert Mariah die Fassung. »Warum?«
»Wenn Faith’ Zustand sich bessert, wenn Sie keinen Kontakt zu ihr haben, will Metz das als Beweis verwenden.«
»Weil ich nicht bei ihr bin? Weil ich sie allein gelassen habe, als sie mich am meisten brauchte?«
»Nein, Mariah. Er wird einen Gutachter als Zeugen aufrufen, der behaupten wird, dass Sie aufgrund der erzwungenen Trennung keine Gelegenheit mehr haben, bei Faith Halluzinationen und Blutungen auszulösen.«
Sie schlägt eine Hand vor den Mund und wendet sich ab. »Was denken sie nur von mir?«
Joan runzelt die Stirn. Die Richtung ihrer eigenen Gedanken gefällt ihr nicht. Mariah hat bezüglich Fletchers Aussage für Metz geschwiegen; was verbirgt sie sonst noch? »Sie denken, Sie würden Ihre Tochter über kurz oder lang töten.«
KAPITEL 15
Kinder sind die Anker, die eine Mutter am Leben halten.
Sophokles Phaedra
ES DAUERT EIN paar Sekunden, bis ich die Bedeutung von Joans Worten begreife. »Machen Sie Witze?«, bringe ich schließlich mühsam hervor. Das ist lachhaft, aber mir ist eher nach Weinen zumute. »Sie denken, ich würde meine eigene Tochter umbringen?«
»Malcolm Metz will sie als emotional labile Frau in einer tiefen Krise darstellen. Angeblich hat er einen Experten gefunden, der sich zu anderen Müttern äußern wird, die das getan haben. Diese psychische Störung hat auch einen Namen: Münchhausen-Syndrom.«
Eine Krise. Wie viel muss ich noch ertragen? Meine Tochter liegt im Krankenhaus, der Mann, in den ich mich verliebt habe, hat mich belogen, und der Mann, den ich einmal geliebt habe, traut mir zu, dass ich fähig wäre, unser Kind zu töten.
»Das ist doch Unsinn«, entgegne ich bestimmt. »Können Sie ihnen das denn nicht
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