Die Wahrheit der letzten Stunde
Krankenhaus verlassen könnte.
Er beugt sich hinab und schließt sie linkisch in die Arme. »Umarme du mich auch«, flüstert er und dann, etwas eindringlicher, »los, komm schon.« Nur ein ganz leichtes Zucken, und er wäre vollauf zufrieden. Er schüttelt sie ganz leicht, will sie aus ihrer Bewusstlosigkeit aufrütteln, aber dann steht plötzlich eine Krankenschwester neben ihm und zieht ihn vom Bett weg. »Sie braucht Ruhe, Mr. White.«
»Ich möchte, dass sie mich umarmt. Ich möchte, dass sie mir nur diesen einen Gefallen tut.«
»Das kann sie nicht«, erwidert die Krankenschwester. »Ihre Hände sind fixiert.« Und während Colin noch hierüber nachdenkt, schiebt sie ihn vor sich her aus dem Zimmer.
»Sagst du mir auch alles?«, frage ich und umklammere das Handy mit solcher Kraft, dass meine Fingernägel Abdrücke im Kunststoffgehäuse hinterlassen müssen.
»Würde ich dich anlügen?«, entgegnet meine Mutter. »Sie schläft jetzt friedlich.«
»Ihr Zustand hat sich also weder gebessert noch verschlechtert.« Damit, dass ihr Zustand stabil ist, kann ich leben. Nichts tun zu können, wenn es Faith so schlecht geht, macht mich noch wahnsinnig.
»Kenzie Van der Hoven ist hier«, sagt meine Mutter. »Sie ist seit einer Stunde im Krankenhaus.«
»Ist dieser Vollidiot von einem Psychiater aufgetaucht?«
»Der, der den Tag über immer wieder hier war? Nein.«
Sie zögert; ich kann es ihrer Stimme anhören. »Was ist, Ma?«
»Nichts.«
»Doch, du hast doch was«, hake ich nach. »Was?«
»Nichts. Nur … Colin war auch hier.«
»Oh. Ist Faith aufgewacht?«, frage ich leise. »Nein. Sie hat gar nicht mitbekommen, dass er hiergewesen ist.«
Ich bin sicher, dass meine Mutter das sagt, damit ich mich besser fühle, aber es funktioniert nicht. Ich lege auf, und mir wird erst später bewusst, dass ich gar nicht auf Wiedersehen gesagt habe.
Ian ist die letzten drei Stunden durch die Straßen von New Canaan gelaufen. Die Stadt ist klein und dunkel, und sämtliche Geschäfte sind geschlossen, abgesehen vom Donut King, und da kann er nicht wieder reingehen, ohne sich lächerlich zu machen. Das Problem ist, dass er sonst nirgendwohin kann.
Er setzt sich auf den Bordstein. Er will nicht zurück zum Winnebago, will seine Mitarbeiter nicht sehen, Menschen, die verwirrt sein werden von seiner heutigen Aussage. Vom Krankenhaus hält er sich bewusst fern, weil er dort ganz sicher von der Presse belästigt würde.
Er will bei Mariah sein, aber sie lässt ihn nicht.
Ian weiß selbst nicht genau, wann genau er dazu übergegangen ist, Mariah nicht mehr als die »ach so liebe Mami« zu betrachten, die ihr Kind aus Geltungssucht skrupellos missbraucht, sondern vielmehr als das Opfer dieses ganzen Schlamassels. Wahrscheinlich in Kansas City. Er hat sich so sehr angestrengt, vorzutäuschen, er wolle ihr helfen, dass dieses Anliegen irgendwann Realität geworden ist.
Aber nur - vielleicht ist Mariah ja gar nicht diejenige, die Hilfe braucht. Vielleicht ist er es.
Er hat sich nie ernsthaft gefragt, warum er Atheist ist, dabei liegt die Antwort auf der Hand. Als Kind vom Schicksal gebeutelt, konnte er einfach nicht an das Konzept eines liebevollen Gottes glauben, punktum, und so hat er sich in jemanden verwandelt, der das auch nicht braucht. Und wie der Zauberer von Oz hat er gelernt, dass die Leute aufhören zu hinterfragen, wer man eigentlich ist, wenn man sich nur lange genug hinter einer Fassade aus Bluff und Prinzipien versteckt.
Vielleicht ist ein Mensch ja mehr als nur Körper und Verstand. Vielleicht gehört noch etwas anderes hinzu - nicht direkt eine Seele, aber ein Geist, der darauf hindeutet, dass man eines Tages besser und stärker sein könnte, als man es gerade ist. Ein Versprechen; ein Potenzial.
Mariah war am Ende, aber sie hat sich wieder gefasst. Mag sein, dass sie sich dem Wind beugt, aber sie zerbricht nicht, trotz ihrer Narben und allem. Und anders als Ian hat sie sich demselben Blitz gestellt, der sie schon einmal niedergestreckt hat, bereit, das Risiko einzugehen, wieder zu unterliegen. Auch sie müsste eigentlich trotz aller guten Absichten und Wünsche vor der Liebe zurückschrecken. Aber sie tut es nicht, und das weiß niemand besser als er, Ian, selbst.
Mariah mag einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen, sie mag diejenige sein, deren Glaubwürdigkeit und mentale Stabilität vor einem Gericht debattiert werden, aber in Ians Augen gehört sie zu den stärksten Menschen, denen er
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