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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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je begegnet ist.
    Ian steht auf, klopft sich den Schmutz vom Hosenboden und geht die Straße hinunter.
     
    Der letzte Mensch, den ich zu sehen erwarte, als ich öffne, ist Colin. »Darf ich …?«, fragt er und zeigt auf den Hausflur. Ich nicke und trete zurück, um ihn in das Haus zu lassen, das ihm einmal gehört hat.
    Ich schließe die Tür hinter ihm und hebe eine Hand an die Kehle, als müsste ich mich körperlich zwingen, die furchtbaren Sachen zurückzuhalten, die an die Oberfläche drängen. »Du solltest nicht hier sein. Keiner unserer Anwälte wäre damit einverstanden.«
    »Im Augenblick interessiert es mich einen Dreck, was Metz denkt.« Colin geht zur Treppe und setzt sich auf eine Stufe. Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ich war eben bei Faith.«
    »Ich weiß. Meine Mutter hat es mir erzählt.«
    Colin blickt auf. »Sie ist… Gott, Rye, sie ist so krank.«
    Nach dem ersten Schock der Angst, der meinen Körper durchströmt, zwinge ich mich, zu entspannen. Immerhin war Colin nicht dabei, als ihre Hände das erste Mal geblutet haben. Er kann also nicht wissen, wie das ist.
    »Die Ärzte sagen, ihr Herz hat keinen Schaden genommen …«
    »Ihr Herz?«, frage ich gepresst, meine Stimme rau wie ein Reibeisen. »Was ist mit ihrem Herzen?«
    Colin scheint ehrlich überrascht zu sein, dass ich nicht Bescheid weiß. »Sie hatte heute Nachmittag einen Herzstillstand.«
    »Einen Herzstillstand? Sie hatte einen Herzstillstand, und niemand hat mir etwas gesagt? Ich fahre sofort hin.«
    Colin erhebt sich mit einer geschmeidigen Bewegung und nimmt meinen Arm. »Das darfst du nicht. Du darfst es nicht, und das tut mir unendlich leid.«
    Ich starre auf seine Hand auf meinem Arm, seine Haut auf meiner Haut, und dann plötzlich hält er mich in den Armen, und ich weine an seiner Brust. »Colin, erzähl mir alles.«
    »Sie wurde intubiert, um ihr das Atmen zu erleichtern. Und sie haben einen Defibrillator eingesetzt, du weißt schon, diese Elektroplatten, um ihren Herzschlag zu stabilisieren. Nach einem Anfall fingen ihre Hände wieder an zu bluten.« Ich höre seiner Stimme an, dass er den Tränen nah ist, und streichle seinen Rücken. »Haben wir ihr das angetan?«
    Ich sehe ihn an und frage mich, ob er mich beschuldigt. Aber dafür scheint er mir zu aufgewühlt zu sein; ich denke, er ist einfach erschüttert. »Ich weiß es nicht.«
    Plötzlich muss ich an die Nacht denken, in der Faith geboren wurde. Das war nur einen Monat nach meiner Entlassung aus Greenhaven, und noch unter Einwirkung der Medikamente, die man mir verabreicht hatte, kam mir alles unwirklich vor. Colin, das Haus, mein Leben. Erst als der Wehenschmerz mich förmlich zerriss, wurde mir wirklich bewusst, dass ich zurück war.
    Ich erinnere mich noch an die Lampen am Fuß des Geburtsbettes - wie in einem Hollywoodfilm. Ich erinnere mich an den Plastikmundschutz der Ärztin und an den Latexgeruch, als sie die Handschuhe überstreifte. Ich kann mich sogar noch an das dumpfe Geräusch erinnern, als Colin ohnmächtig wurde und sich am Nachttisch den Kopf angeschlagen hat. Und ich weiß noch, dass sich alle um ihn gekümmert haben, während ich die Hände auf den dicken Bauch legte und wartete, dass ich dran war. Ich weiß noch, wie ich an mein Herz dachte unmittelbar über den Füßen das Babys, wie der Ball auf der Nase eines dressierten Seehundes. Und dann die Entschlossenheit, die in mir aufstieg, als mir klar wurde, dass es nur einen Weg gab, den Schmerzen ein Ende zu machen, und zwar, indem ich das Baby aus meinem Bauch rausbeförderte, indem ich presste und presste, bis ich sicher war, mein Innerstes nach außen zu stülpen. Und dann fühlte ich, wie ihr Köpfchen mich dehnte und veränderte, fühlte die Rundungen ihrer Nase, ihres Kinns und ihrer Schultern, die nacheinander aus mir hinausgedrückt wurden, um dann in einem zitternden Schwall Luft, Blut und Schönheit zwischen meine Schenkel zu gleiten.
    Aber am deutlichsten erinnere ich mich daran, wie die Krankenschwester Faith hochhielt, bevor die Nabelschnur durchtrennt worden war. »Was für eine wunderhübsche kleine Tochter!« Sie hielt sie dichter vor mich, damit ich das verschrumpelte Gesichtchen und die strampelnden Beinchen besser sehen konnte. Und da trat das Baby zufällig gegen die Nabelschnur. Ich fühlte es bis in mich hinein, ein seltsames Ziehen, ein Zittern, das sich bis zum Bauch meiner Tochter fortsetzte, woraufhin auch sie verwundert die Augen aufschlug. Und zum ersten Mal

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