Die Wahrheit der letzten Stunde
dachte ich: Zwischen uns besteht ein Band.
Colin drückt das Gesicht an mein Haar und schluchzt unterdrückt. »Es ist alles gut«, sage ich, obwohl es das nicht ist, bei weitem nicht. Ich drehq mich in seinen Armen um, und mir wird bewusst, dass ich froh bin, dass er hier ist, dass wir das füreinander tun können. »Schhhhhhhht«, sage ich beruhigend, so wie ich vielleicht Faith beruhigt hätte, hätte ich bei ihr sein können.
4. Dezember 1999
Als erstes am Samstagmorgen trinkt Joan eine Tasse sehr starken und sehr schwarzen Kaffee im Donut King und gönnt sich dazu eine Portion Geleeröllchen, die den Rest des Tages vorhalten dürfte. Derart gestärkt begibt sie sii in ihre Kanzlei fünfzig Meter die Straße hinunter. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckt, stellt sie fest, dass bereits aufgesperrt ist. Mit dem Gedanken an Vandalen, Diebe und sogar Malcolm Metz stößt sie die Tür an, die lautlos aufschwingt.
Ian Fletcher ist über den Computer ihrer Sekretärin gebeugt. Er wirft ihr über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Das wird aber auch Zeit. Ich habe alles ausgedruckt, was ich im Internet über das Münchhausen-Syndrom finden konnte. Ich denke, die erfolgversprechendste Strategie wäre, die Seltenheit dieser Krankheit hervorzuheben. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit nur zweihundert Fälle registriert. Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass Mariah dazugehört? Außerdem spricht ihre Vorgeschichte dagegen. Sie wurde als Kind nicht missbraucht, und wenn Millie im Zeugenstand …«
»Moment. Was machen Sie hier?«
Ian zuckt die Achseln. »Wonach sieht es denn aus? Ich bin ihr Rechtsgehilfe.«
»Von wegen! Mariah wäre es inzwischen lieber, Sie würden sich nicht mal im selben Staat aufhalten wie sie, geschweige denn sich in ihren Rechtsstreit einmischen. Was weiß ich, ob Sie nicht wieder als Doppelagent unterwegs sind und versuchen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen, noch bevor wir Gelegenheit haben, unseren Standpunkt zu vertreten.«
»Bitte«, sagt Ian ernst. »Mit so etwas verdiene ich meine Brötchen. Recherchieren ist mein Job, davon verstehe ich etwas. Ich decke auf. Ich widerlege. Wenn Mariah nicht will, dass ich ihr helfe, lassen Sie mich wenigstens Ihnen helfen.«
Realistisch betrachtet stehen Joans Chancen, genug Informationen zusammenzutragen, um Dr. Birch Kontra bieten zu können, denkbar schlecht - zumindest, wenn sie allein daran arbeitet. Sie verfügt weder über die notwendige Zeit noch über die Unterstützung einer großen Kanzlei, so wie Metz. Sie weiß nicht einmal, wo sie anfangen soll.
Als Ian spürt, dass ihre Abwehr bröckelt, hält er einen Stapel Blätter hoch. »Sie brauchen eine Verteidigung gegen ein angebliches Münchhausen-Syndrom. Ich habe also online mit einem Doktor an der UCLA gechattet, der Spezialist ist auf dem Gebiet psychosomatischer Krankheiten, die bei Scheidungskindern auftreten.« Er zieht eine Braue hoch. »Dr. Fitzgerald sagt, es hätte sogar Fälle gegeben, bei denen es zu psychisch bedingten Blutungen gekommen ist.«
Joan hält ihm die Packung Geleerollen hin. »Sie sind engagiert.«
Als meine Mutter ganz früh am Morgen anruft, sage ich ihr unverblümt die Meinung. Ich schreie sie so lange und laut an, weil sie mich über Faith’ Zustand belogen hat, dass sie schließlich in Tränen ausbricht. Sie legt auf, und sofort plagt mich das schlechte Gewissen. Und ich kann nicht einmal zurückrufen, um mich bei ihr zu entschuldigen.
Colin ist bis vier Uhr morgens geblieben. Mir ist durch den Kopf gegangen, dass seine neue Frau sich vermutlich gefragt hat, wo er steckt. Oder auch nicht. Vielleicht hat er sie deshalb geheiratet.
Bevor er gegangen ist, hat er mir einen Gutenachtkuss gegeben. Nicht mit Leidenschaft, aber mit einer Entschuldigung, die zwischen meinen Lippen hindurchglitt wie Süßholz und einen ebenso bitteren Geschmack hinterließ.
Im Haus ist es völlig still. Ich sitze in Faith’ Schlafzimmer, starre auf ihr Puppenhaus, ihren Bastelkasten und ihre Barbies und versuche, den Mut aufzubringen, sie anzufassen. Ich sitze so verkrampft da, dass meine Kiefer von der Anspannung schmerzen.
Ich sollte jetzt bei ihr sein, so wie meine Mutter immer bei mir war, wenn ich krank war, mir ein Glas mit Orangensaft an die Lippen hielt, meine Brust mit Wiek VapoRub einschmierte und einfach da war, wenn ich wach wurde, so als hätte sie sich die ganze Nacht nicht weggerührt.
Mütter tun so was. Sie wachen über
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