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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ihre Kinder; sie stellen ihre Kinder an allererste Stelle.
    Und genau das habe ich nicht getan.
    Meine erste mütterliche Handlung bestand darin, meinem ungeborenen Kind die Schuld zu geben an der Untreue seines Vaters. Meine zweite mütterliche Handlung bestand darin, die verschiedensten Tabletten zu schlucken, obwohl die Ärzte nicht sagen konnten, welche Auswirkungen sie auf das Baby haben würden. Sie redeten mir ein, es wäre wichtiger, meine Depressionen zu heilen, als sich den Kopf zu zerbrechen wegen der Risiken für das Ungeborene. Und ich blöde Kuh habe ihnen geglaubt.
    Ich habe Monate gebetet und gehofft, dass Faith gesund auf die Welt kommen würde, damit mein Gewissen endlich wieder zur Ruhe kam. Und als mein Wunsch sich dann erfüllt hatte, konnte ich mein Glück nicht fassen und lebte in der ständigen Angst, dass das Schicksal uns doch noch einholen würde. Muttersein ist keine Prüfung, sondern eine Religion: eine Verpflichtung, die man eingegangen ist, ein Versprechen, das man einlösen muss. Es gibt nur eine Allgemeingröße für alle, und es gibt nichts Wirkungsvolleres, um persönliche Fehler und Mängel zu überdecken. Wie ist es möglich, dass es erst so weit kommen musste, damit ich erkenne, dass Faith das Einzige in meinem Leben ist, das ich beim ersten Anlauf perfekt hingekriegt habe?
    Ich blicke auf meine Hände hinunter. Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich ins Bad gegangen, habe den Rasierer genommen, mit dem ich mir sonst die Beine rasiere, habe den Plastikkopf aufgebrochen und halte jetzt die nackte Klinge in der Hand.
    Ganz vorsichtig werfe ich sie in den Abfalleimer.
     
    »Was soll das heißen, wir können nicht mit ihr sprechen?«, beschwert sich Malcolm Metz aufgebracht. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was wir anstellen mussten, um überhaupt bis hierher zu gelangen? Da unten ist die Hölle los.«
    Eine Krankenschwester wendet sich Dr. Blumberg zu. »Was gibt’s?«
    »Es geht um einige Aids-Patienten. Die Zahl ihrer T-Zellen ist plötzlich wieder normal.«
    »Im Ernst?«, fragt die Schwester sichtlich überrascht.
    »Und wenn die Toten aus der gottverdammten Leichenhalle sich zum Mittagessen in der Cafeteria eingefunden haben«, knurrt Metz. »Ich verlange, dass man Dr. Birch erlaubt, mit Faith White zu sprechen.«
    »Sicher, ich erlaube es«, entgegnet Dr. Blumberg achselzuckend. »Erhoffen Sie sich nur nicht zu viel davon.«
    Beim Klang der erregten Stimmen kommt Kenzie aus Faith’ Zimmer. Sie hat ihr die vergangenen drei Stunden vorgelesen, obwohl Faith nicht bei Bewusstsein ist. »W; ist denn hier los?«
    »Das ist jetzt schon das fünfte Mal, dass Dr. Birch de« Versuch unternimmt, Faith zu befragen«, klagt Metz. »Es wird meinem Fall erheblich schaden, wenn ich Montag ohne diese Informationen vor Gericht erscheinen muss.«
    »Ich bedaure, dass Faith so unkooperativ ist, Ihre Pläne zu durchkreuzen«, entgegnet Kenzie sarkastisch. »Sie liegt im Koma.«
    »Im Koma?«, wiederholt Metz verdutzt. »Ich dachte, Standish würde übertreiben, um Sympathien für ihre Mandantin zu gewinnen. Gott, das tut mir leid.« Er wendet sich Birch zu. »Vielleicht könnten Sie mit ihren behandelnden Ärzten sprechen.«
    »Ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung«, sagt Blumberg.
    Aber ehe er und Dr. Birch gehen können, wankt Millie plötzlich. Malcolm Metz kann gerade noch stützend ihren Arm fassen, bevor sie zusammensackt.
    »Millie?«, fragt Kenzie besorgt. »Wann haben Sie sich das letzte Mal ausgeruht?«
    »Ich weiß nicht. Ich schätze, das ist eine Weile her.«
    »Gehen Sie und schlafen sich aus. Es gibt hier genug freie Betten. Ich werde in der Zwischenzeit auf Faith aufpassen.«
    »Ich weiß. Ich möchte nur nicht den Moment verpassen, wenn sie wieder zu sich kommt. Vielleicht, wenn ich nur zehn Minuten die Augen zumache …«
    »Lassen Sie sich Zeit«, entgegnet Kenzie, spricht jedoch nicht aus, was ihr durch den Kopf geht: Möglicherweise wird Faith nie wieder zu sich kommen.
     
    In dieser Nacht träume ich, dass ich mit Faith’ Gott spreche.
    Sie ist ganz zweifellos eine Sie. Sie setzt sich ans Fußende meines Bettes, und ich starre auf den leuchtenden Rand ihres Haares, an das Glühen entlang ihrer Finger, wie bei einem Kind, das eine Hand vor eine eingeschaltete Taschenlampe hält. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten, als würde auch sie Faith vermissen.
    Friede senkt sich auf das Bett herab wie eine zusätzliche Decke, aber ich fühle, wie ich mich unruhig bewege und

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