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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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schweigend durch die Flure; ich habe entsetzliche Angst davor, dass jeden Moment jemand von irgendwo hervorspringen und mit dem Finger auf mich zeigen könnte, um mir dann Handschellen anzulegen und mich abzuführen. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, in meiner Brust einen Kern der Ruhe zu bewahren, um nicht zusammenzubrechen, wenn ich Faith sehe, ganz egal, wie schlimm sie aussieht.
    Plötzlich fällt mir etwas Merkwürdiges auf. Es scheint fast niemand im Krankenhaus zu sein. Auch um zwei Uhr morgens müssten übernächtigte Ärzte hier sein, erschöpfte Angehörige, schwangere Frauen. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, dreht Kenzie sich zu mir um. »Es geht das Gerücht um, dass Faith einen ganzen Haufen von Patienten geheilt hätte«, sagt sie. »Allein durch ihre Anwesenheit.«
    Einen kurzen Moment frage ich mich, ob das stimmt. Dann denke ich: Um welchen Preis? Nachdem sie meine Mutter ins Leben zurückgeholt hat, war Faith völlig erschöpft und ausgelaugt. Mit wie vielen Patienten ist sie in den vergangenen zwei Tagen in Berührung gekommen? Und plötzlich weiß ich, warum Faith diesmal soviel kränker ist.
    Das Heilen anderer bringt sie um.
    Als wir in die Kinderstation einbiegen, spreche ich aus, was mir nicht aus dem Sinn geht, seit Kenzie mich verständigt hat. »Sie müssen Colin anrufen.«
    »Das habe ich bereits. Er hat mir gesagt, ich solle Sie anrufen.«
    »Aber…«
    »Er schert sich ebenso wenig um die Verfügung. Er sagte, Sie sollten auch hier sein.«
    Wir erreichen Faith’ Zimmer - sie ist verlegt worden, seit ich das letzte Mal hier war. An der Glasscheibe mache ich Halt. Meine Mutter sitzt auf einem Stuhl an Faith’ Bett, und ich bin geschockt davon, wie sehr sie in den letzten Stunden gealtert ist. Faith … meine Tochter hätte ich gar nicht wiedererkannt. Vor lauter Schläuchen, Elektroden und Drähten sieht sie furchtbar klein und zerbrechlich aus in ihrem schmalen Bett.
    Eine Krankenschwester geistert umher wie ein Schatten, als ich eintrete. Meine Mutter steht auf und umarmt mich. Wortlos nehme ich ihren Platz ein.
    Jetzt verstehe ich, wie Mütter in der Lage sind, Autos anzuheben, unter denen ihr Kind eingeklemmt ist, oder die sich schützend vor ihr Kind werfen, um ein tödliches Geschoss abzufangen. Ich würde alles darum geben, wenn ich das in dem Bett wäre, wenn ich mit ihr tauschen könnte.
    Ich beuge mich über sie, und meine Worte fallen sanft auf ihr Gesicht hinab. »Ich habe dir nie gesagt, dass es mir leid tut«, flüstere ich. »Ich war lange Zeit so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass für dich keine Zeit war. Aber ich wusste, du würdest auf mich warten, bis ich soweit wäre.« Ich lege eine Hand an ihre Wange. »Jetzt bist du dran. Lass dir Zeit. Wenn du zurückblickst - in ein paar Tagen oder auch Monaten - also, ich werde da sein.« Ich schließe die Augen und lausche dem leisen gelegentlichen Sirren der Maschinen, die Faith am Leben halten. Einer der Apparate fängt an, schneller und gleichmäßiger zu piepen. Die Krankenschwester blickt stirnrunzelnd auf. »Da geht etwas vor«, sagt sie nach einem Blick auf das EKG. »Ich werde vorsichtshalber Dr. Blumberg anpiepen.«
    Kaum hat sie den Raum verlassen, schlägt Faith abrupt die Augen auf. Zuerst fällt ihr Blick auf Kenzie, dann auf meine Mutter, und schließlich auf mich. Faith öffnet und schließt den Mund, versucht zu sprechen.
    Der Arzt stürzt ins Zimmer und reißt sich das Stethoskop vom Hals. Er überprüft Faith’ Vitalfunktionen und redet beruhigend auf sie ein, während seine Hände über ihren Körper fahren. »Noch nicht sprechen, Kleines.« Er nickt einer Krankenschwester zu, die Faith an den Schultern festhält, während er vorsichtig den Beatmungsschlauch herauszieht. Faith hustet und würgt, dann erklingt ihre Stimme, rau wie Sandpapier. »Mami«, krächzt sie lächelnd und umschließt mit den bandagierten Händen mein Gesicht.
     
    KAPITEL 16
     
    So einsam war es, dass gar Gott selbst verlassen zu sein schien.
    Samuel Taylor Coleridge »The Rhyme of the Ancient Mariner«
     
    6. Dezember 1999
     
    ES IST SO bitter kalt, dass der Schnee nicht auf der Straße haftet. Er wirbelt unter Mariahs Wagen, sammelt sich vor ihr und weht dann fort, außer Reichweite der Reifen.
    Mariah hält den Blick auf die Straße gerichtet. Sie konzentriert sich auf ihr Ziel, darauf, wann sie dort sein wird.
     
    »Dr. Birch«, sagt Malcolm Metz, »haben Sie an diesem Wochenende mit Faith White

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