Die Wahrheit der letzten Stunde
schwitze. »Du«, sage ich und fühle, wie Zorn mit scharfen Krallen in meiner Brust aufsteigt.
»Sie hat keine Schmerzen.«
»Glaubst du, damit wäre alles in Ordnung?«, fahre ich sie an.
»Glaube an das, was ich tue.«
Ich traue meiner Stimme nicht, und so antworte ich nicht gleich. Ich denke an Ian und an das, was er über Gott gesagt hat. »Wie soll ich an dich glauben«, sage ich schließlich leise, »wenn du einem kleinen Mädchen so etwas antust?«
»Ich tue es ihr nicht an; ich tue es für sie.«
»Haarspalterei ist kaum angebracht, wenn man den Tod vor Augen hat.«
Eine Weile sitzt Gott nur da und streicht mit der Hand über die Bettdecke, wobei sie eine schimmernde Spur hinterlässt, als würde sie den Stoff mit Blattgold überziehen. »Ist dir je der Gedanke gekommen, dass ich weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren?«, fragt sie schließlich leise.
5. Dezember 1999 - 02:00 Uhr
Eine Stunde später erleidet Faith einen weiteren Herzstillstand. Diesmal steht Kenzie zusammen mit Millie draußen vor der Scheibe und beobachtet angespannt, wie die Ärzte um das Leben des kleinen Mädchens kämpfen.
Nach mehreren Minuten hektischer Betriebsamkeit und brutal anmutender Maßnahmen an Faith’ schmächtigem Körper tritt Dr. Blumberg zu den beiden Frauen. Er ist über den Gerichtsbeschluss im Bilde und missbilligt ihn. Er fordert Millie auf, ein paar Schritte mit ihm zu gehen, um sich unter vier Augen mit ihr zu unterhalten, aber sie winkt ab und sagt, er solle frei vor Kenzie sprechen.
»Sie kämpft, aber ihr Herz hat einige Zeit ausgesetzt, sodass sie mit Sauerstoff unterversorgt war. Wir werden erst wissen, ob das Gehirn Schaden genommen hat, wenn sie aufwacht.«
»Was …« Kenzie bleibt die Frage im Halse stecken.
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Kinder stecken mehr weg als Erwachsene. Aber bei Faith geschehen Dinge, die jeder Logik widersprechen.« Der Arzt zögert. »Es gibt keinen ersichtlichen medizinischen Grund für Faith’ Herzprobleme, aber ihr Körper wird immer schwächer. Sie liegt im Koma. Wir halten sie nur mit Hilfe von Maschinen am Leben. Und ich weiß nicht, wie lange wir das noch können.«
Millie versucht, in gefasstem Tonfall zu sprechen.
Blumberg nickt. »Ich denke, dass Freunde und Verwandte daran denken sollten, Abschied zu nehmen«, bestätigt er sanft. Dann wendet er sich an Kenzie. »Und Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob ein von einem Richter unterschriebenes Stück Papier wirklich so schrecklich wichtig ist.«
Als der Doktor sich entfernt, steht Kenzie da wie angewurzelt. Es ist früh am Sonntagmorgen. In etwas mehr als vierundzwanzig Stunden werden sie alle in den Gerichtssaal zurückkehren. Sofern es dann überhaupt noch nötig ist.
Als sie unterdrücktes Schluchzen hört, wendet sie sich um. Millies Gesicht ist wie versteinert; sogar jetzt versucht sie noch, stark zu sein.
Kenzie schließt sie in die Arme. Sie wissen beide, was zu tun ist. »Rufen Sie nicht Colin an«, bricht es aus Millie hervor. »Er ist schuld, dass Mariah nicht hier sein kann. Er hat es nicht verdient, hier zu sein.«
Die Prozesspflegerin erkennt, dass die ältere Frau sich an den Zorn klammert wie an eine Rettungsleine. »Millie«, sagt sie leise, »ich bin gleich zurück.« Darauf wendet Kenzie sich ab und zum nächsten Münzfernsprecher. Sie kramt einen Zettel aus ihrer Tasche und wählt die Nummer, die sie darauf notiert hat.
Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. »Mariah«, sagt Kenzie van der Hoven, »ich möchte, dass Sie mir jetzt gut zuhören.«
Ich komme mir albern vor, als ich knapp zwanzig Minuten später das Krankenhaus betrete, mit der Ersatzlesebrille meiner Mutter auf der Nase und einer alten Perücke, mit der Faith sich immer gerne verkleidet hat. Ich gehe zügig, als wüsste ich ganz genau, wohin ich wollte, und tatsächlich wartet Kenzie bei den Fahrstühlen auf mich. Nachdem die Fahrstuhltür sich hinter uns geschlossen hat, lege ich dankbar die Arme um Kenzie. Sie hat mir am Telefon gesagt, dass es Faith nicht besser geht. Dass ihr Herz wieder ausgesetzt hat. Dass sie möglicherweise sterben wird. »An diesem Punkt ist es mir gleich, was der Richter sagt«, hat Kenzie erklärt. »Sie gehören hierher.«
Sie hat das Offensichtliche nicht ausgesprochen - dass es nichts gebracht hat, mich von Faith fernzuhalten, dass ihr Zustand sich sogar rapide verschlechtert hat, seit man mir den Kontakt zu ihr untersagt hat.
Ich folge Kenzie
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