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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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können, was ich wollte, aber es wäre schön gewesen, wenn er zumindest versucht hätte, meine Wünsche zu ergründen.
    Dann war ich plötzlich in Greenhaven. Ich war schwanger. Ich hatte Colin noch nichts davon gesagt, und es wurde mein Geheimnis.« Ich sehe den Richter an. »Sie können nicht wissen, wie es ist, an einem Ort zu sein, an dem man mit Haut und Haaren anderen ausgeliefert ist. Man schreibt einem vor, was man zu essen und zu trinken hat, wann man aufstehen und schlafen gehen soll, man setzt einem Spritzen und zwingt einen zu Therapiesitzungen. Ich war ihnen ausgeliefert - aber für eine kurze Zeit hatte ich dieses Baby ganz für mich allein. Natürlich wurde die Schwangerschaft nach einiger Zeit bei Bluttests entdeckt, aber die Ärzte sagten, ich müsse die Medikamente trotzdem weiternehmen. Sie sagten, das Baby hätte auch nichts davon, wenn ich mich noch vor seiner Geburt umbrächte. Also ließ ich zu, dass man mich weiter mit Drogen vollpumpte, bis mir die Risiken für das Ungeborene schließlich egal waren. Bis mir alles egal war.
    Nach meiner Entlassung aus Greenhaven bekam ich Angst wegen dem, was ich meinem Baby angetan hatte, nur um mich selbst zu retten. Ich schloss mit mir selbst einen Handel ab: Es war okay, wenn ich keine perfekte Ehefrau war, vorausgesetzt, ich wurde eine perfekte Mutter.«
    Joan sieht mir in die Augen. »Und, sind Sie eine perfekte Mutter gewesen?«
    Ich weiß, was sie von mir erwartet. Ich soll antworten >Ja, nach Kräften.< Wir haben noch gelacht, weil es wie ein alter Army-Slogan klang, aber weder mir noch Joan ist etwas Besseres eingefallen. Aber jetzt, da ich hier sitze, bringe ich die Worte nicht über die Lippen. Vielmehr drängt sich mir die Wahrheit auf.
    »Nein«, antworte ich leise. »Wie bitte?«
    Ich versuche, nicht in Joans zorniges Gesicht zu blicken. »Ich sagte nein. Nach Faith’ Geburt ging ich oft auf den Spielplatz, um andere Mütter zu beobachten. Irgendwie hatten sie Fläschchen, Kinderwagen und Baby scheinbar mühelos im Griff. Ich hingegen vergaß ihre Pausenbrote, als sie in den Kindergarten kam. Oder ich warf ein vollgekritzeltes Blatt Papier weg, das eine Valentinskarte sein sollte. Das passierte zwar wahrscheinlich auch anderen Müttern, aber mir vermittelte es immer ein Gefühl der Unzulänglichkeit.«
    Joan unterbricht mich mit einer Frage. »Warum ist es Ihnen so wichtig, perfekt zu sein?«
    Es heißt, es gäbe Momente, die das Leben aufbrechen wie mit einem Nussknacker, die den eigenen Standpunkt so nachhaltig verändern, dass man die Dinge nie wieder so sieht wie vorher. Als die Antwort in mir aufsteigt, wird mir klar, dass ich es immer gewusst habe, jedoch ohne es mir bewusst zu machen. »Weil ich weiß, was es heißt, nicht gut genug zu sein«, antworte ich leise. »Weil das der Grund ist, weshalb ich Colin verloren habe, und ich so etwas nie wieder durchmachen möchte.« Ich verschränke die Hände im Schoß. »Sehen Sie, wenn ich die beste Mutter von allen bin, wird Faith sich keine andere als mich wünschen.«
    Joan spürt, dass wir uns auf dünnem Eis bewegen, und sie wirft mir eine Rettungsleine zu. »Können Sie uns erzählen, was sich am Nachmittag des zehnten August ereignet hat?«
    »Ich war mit Faith bei meiner Mutter«, antworte ich, dankbar für den Themenwechsel. »Anschließend fuhren wir zum Ballettunterricht, aber unterwegs fiel Faith ein, dass sie ihr Trikot nicht dabei hatte. Also fuhren wir heim, um ihre Sachen zu holen, und sahen Colins Wagen vor dem Haus stehen. Er war auf Geschäftsreise gewesen, und ich hatte ihn erst später zurückerwartet. Faith lief mir voran nach oben, aber ich holte sie ein. Oben lief Wasser, und ich nahm an, dass Colin eben erst gekommen war und duschen wollte. Ich betrat das Schlafzimmer zuerst. Colin hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen, und so ließ ich Faith herein. Dann ging die Badezimmertür auf, und … Jessica kam heraus, nur in ein Handtuch gewickelt.«
    »Was hat Colin gesagt?«
    »Er lief Faith nach. Später erzählte er mir dann, dass er sich schon seit mehreren Monaten mit Jessica träfe.«
    »Und was geschah dann?«
    »Er ging. Ich rief meine Mutter an. Ich fühlte mich hundeelend, verfiel wieder in Depressionen, aber diesmal war ich nicht allein. Ich wusste, dass sie sich um Faith kümmern würde, während ich damit beschäftigt war, mich zu fangen.«
    »Dann waren Sie also auch in dieser Krisensituation in der Lage, zu organisieren, dass Faith bestens versorgt

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