Die Wahrheit der letzten Stunde
Psychiater blickt dem Anwalt fest in die Augen. »Wenn es sich nicht um eine psychosomatische Störung handelt«, entgegnet er und lächelt, »käme immer noch in Betracht, dass die siebenjährige Patientin tatsächlich Gott sieht.«
KAPITEL 17
Frauen sind ein Widerspruch in sich.
Alexander Pope
6. Dezember 1999
»DAS WAR UNGLAUBLICH!«, sage ich begeistert. Ich fühle mich, als würden in meinem Inneren kleine Bläschen aufsteigen, ein Prickeln, das zum Lachen reizt. Ich umarme Joan ganz fest. »Wo haben Sie denn diesen Dr. Fitzgerald aufgetan?«
»Im Internet«, entgegnet sie und mustert mich aufmerksam.
Meinetwegen hätte sie ihn auch in einer Felsspalte finden können, das ist mir gleich. Der Psychiater hat nicht nur das Fundament für eine alternative Erklärung für Faith’ Symptome gelegt, sondern er hat außerdem Malcolm Metz die Stirn geboten und gewonnen. »Danke. Sie haben am Freitag solches Aufhebens davon gemacht, dass Metz diesen Überraschungsze,ugen eingebracht hat, dass ich bezweifelt habe, dass es Ihnen gelingen würde, so kurzfristig eine anständige Verteidigungsstrategie auf die Beine zu stellen.«
»Ich war das nicht, also danken Sie nicht mir.«
Ich lächle zögernd. »Was meinen Sie damit?«
»Ich verfüge nicht über Metz’ personellen oder finanziellen Hintergrund, Mariah. Auf mich allein gestellt, hätte ich es wohl nicht geschafft. Dann hätte ich heute das Handtuch werfen müssen. Aber Ian Fletcher hat das ganze Wochenende in meiner Kanzlei verbracht, hat Dr. Fitzgerald aufgespürt, mit ihm online kommuniziert und diese spezielle Verteidigung aus dem Hut gezaubert.«
»Ian?«
»Er hat das für Sie getan«, erwidert Joan sachlich. »Er würde alles für Sie tun.«
Ein Zeugenstand ist ein ziemlich unangenehmer Ort. Man ist von allen Seiten von einem Gitter eingeschlossen. Die Stimme wird durch ein Mikrophon verstärkt. Man sitzt auf einem Stuhl, der so unbequem ist, dass man gar nicht anders kann, als sich kerzengerade zu halten und ins Publikum zu sehen. Mein Herz schlägt so panisch, wie ein in einem Glas gefangener Leuchtkäfer gegen die Wände seines Gefängnisses anfliegt.
Joans Absätze klappern laut auf dem Holzboden. »Würden Sie bitte für das Protokoll Ihren Namen nennen?«
Ich ziehe den biegsamen Fuß des Mikrophons näher zu mir hin. »Mariah White.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu Faith White?«
»Ich bin ihre Mutter.« Das Wort ist wie Balsam, der von meinen Lippen über meine Kehle bis in meinen Bauch rinnt.
»Können Sie uns sagen, wie Sie sich heute fühlen, Mariah?«
Ich lächle. »Gut, sogar blendend.«
»Wie kommt das?«
»Meine Tochter durfte das Krankenhaus verlassen.«
»Soweit ich weiß, war ihr Zustand an diesem Wochenende sehr kritisch?«, fragt Joan.
Natürlich weiß Joan das sehr genau; sie war mehrmals bei Faith im Krankenhaus. Diese Förmlichkeit, dieses ganze Theater, erscheint mir lächerlich. Wozu diese ganzen Theorien und Hypothesen, anstatt mir gleich zu erlauben, zum Zuschauerraum zu gehen, Faith in die Arme zu schließen und mitzunehmen.
»Ja«, antworte ich stattdessen. »Sie hatte zweimal einen Herzstillstand und fiel ins Koma.«
»Und trotzdem konnte sie das Krankenhaus bereits wieder verlassen?«
»Sie wurde am Sonntagnachmittag entlassen, und es geht ihr sehr gut.« Ich werfe einen Blick auf Faith und zwinkere ihr zu, obwohl es gegen die Regeln verstößt.
»Mr. Metz behauptet, Sie würden am Münchhausen-Syndrom leiden. Wissen Sie, was darunter zu verstehen ist?«
Ich schlucke hart. »Das würde bedeuten, dass ich ihr wehtue. Dass ich sie krank mache.«
»Sie haben gehört, wie inzwischen zwei Experten vor diesem Gericht erklärt haben, dass der beste Weg, das Münchhausen-Syndrom zu diagnostizieren, der ist, Mutter und Kind zu trennen und zu sehen, ob der Zustand des Kindes sich bessert.«
»Ja.«
»Haben Sie Faith an diesem Wochenende sehen können?«
»Nein«, gebe ich zu. »Ein Gerichtsbeschluss verbot mir, sie zu besuchen. Jeglicher Kontakt zu ihr war mir untersagt.«
»Was ist zwischen Donnerstag und Sonntag mit Faith passiert?«
»Ihr Zustand hat sich immer mehr verschlechtert. Gegen Mitternacht am Samstag glaubten die Ärzte, sie würde die Nacht nicht überleben.«
Joan runzelt die Stirn. »Woher wissen Sie das, wenn Sie doch nicht dort waren?«
»Ich wurde angerufen. Von meiner Mutter. Von Kenzie van der Hoven. Beide waren über längere Zeit bei Faith.«
»Also hat sich
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