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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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um aus einiger Entfernung den Spielplatz zu beobachten, aber er wagt es nicht, den Kontakt herzustellen. Das Problem ist, dass er nicht weiß, was er sagen soll. Jedes Mal, wenn er denkt, er hätte sich eine brauchbare Entschuldigung zurechtgelegt, erinnert er sich daran, wie Faith ihn angestarrt hat, als er sie nach dem Zirkusunfall im Krankenhaus besuchte - stumm und strafend, als wüsste sie trotz ihrer Jugend um seine Unzulänglichkeit. Colin weiß sehr wohl, dass Vater zu sein keine leichte Übung ist, da geht es um mehr als nur darum, im Garten Ball zu spielen oder einen Zopf zu flechten. Vater sein bedeutet, »Gute Nacht, Mond« auswendig zu kennen. Es heißt, mitten in der Nacht schon auf dem Weg zu sein, den Bruchteil einer Sekunde, bevor man sie aus dem Bett fallen hört. Es bedeutet, sie in einem Tütü herumwirbeln zu sehen und sich zu fragen, wie es wohl sein wird, auf ihrer Hochzeit zu tanzen.
    Es heißt, die Illusion zu erhalten, man habe die Oberhand, auch wenn man ihr völlig ausgeliefert ist, seit dem Moment, da sie einem das erste zahnlose Lächeln geschenkt hat.
    Er denkt in der letzten Zeit so viel an Faith, dass er nicht mehr begreifen kann, wie er sie lange genug aus seinen Gedanken verdrängen konnte, um den monumentalen Fehler zu machen, bei sich zu Hause mit Jessica zu schlafen.
    Colin stößt einen tiefen Seufzer aus. Er liebt Jessica, und sie hat Recht - es ist Zeit für einen neuen Anfang.
    Und so leistet er stumm ein Versprechen: Diesmal wird er ein besserer Vater sein, und er wird dafür sorgen, dass auch Faith von dem neuen Kapitel in seinem Leben profitiert. Er sagt sich, dass er, sobald wieder Ruhe in sein Leben eingekehrt ist, zu Faith zurückkehren wird. Er wird alles wieder gutmachen.
    »Mr. White«, sagt der Mann vom Pflegeheim ungeduldig aus Richtung der Tür. »Könnten wir bitte weitermachen?«
    Colin dreht sich um und steckt die Haarspange in die Tasche. Dann greift er nach dem Muster aus der Kiste und stürzt sich in eine Litanei über die Energie- und Geldersparnis dieses Modells, während er sich im Stillen die ganze Zeit fragt, wie es kommt, dass jemand, der sein Leben damit verdient, Menschen im Notfall den sicheren Weg ins Freie zu weisen, den Ausweg aus seinem eigenen Dilemma einfach nicht finden kann.
     
    6. September 1999
     
    Millie Epstein greift nach ihrer Diät-Cola und setzt sich zu ihrer Tochter auf die Wohnzimmercouch. »Sei froh. Sie hätte sich auch einen britischen Soldaten mit Bärenfellmütze als Beschützer ausdenken und sich darüber beklagen können, dass er nicht hinten in den Wagen passt.«
    Mariah fährt sich mit der eigenen Getränkedose über die Stirn. »Sie kommt nächste Woche in die Schule. Was, wenn die anderen Kinder sie verspotten?«
    »Ist es das, was dir solche Sorgen macht? Wirklich, Mariah. Sie ist sieben. Nächste Woche hat sie das alles längst vergessen.«
    Mariahs Lippe gleitet am scharfen Rand der Getränkedose entlang. »Ich habe es nicht vergessen«, sagt sie leise.
    Ihre Mutter schüttelt den Kopf. »Es war alles in Ordnung mit dir. Colin hat dir nur eingeredet, du wärst meschugge, während du tatsächlich nur ein wenig durcheinander warst.«
    »Es war eine klinische Depression, Ma.«
    »Was nicht dasselbe ist wie zu glauben, dass ein Alien einem über Radiowellen Botschaften ins Gehirn beamt.«
    Mariah dreht sich ihr zu. »Ich habe nie behauptet, ich wäre schizophren.«
    »Liebes.« Millie berührt ihre Tochter sanft an der Schulter. »Du hattest auch einen imaginären Freund, als du fünf warst. Es war ein Junge namens Wolf, von dem du behauptet hast, er würde am Fußende deines Bettes schlafen und hätte dich eindringlich vor dem Verzehr von Gemüse gewarnt.«
    »Soll mich das etwa trösten?« Mariahs Kopf fängt an zu pochen. Sie nimmt die Fernbedienung vom Tisch und schaltet den Fernseher ihrer Mutter ein. Auf den Hauptkanälen laufen nur Seifenopern, die sie nicht ausstehen kann, dann ein Info-Magazin und die Sendung von Martha Stewart. Sie zappt durch die weniger oft eingeschalteten Satelliten-Programme und entscheidet sich schließlich für eine Sitcom.
    »Nein, schalte zurück.« Millie nimmt ihr die Fernbedienung aus der Hand. »Ich mag seinen Akzent.«
    Mariah runzelt unwillig die Stirn, als ihre Mutter Ian Fletchers Anti-Evangelisten-Show einschaltet. Der Mann stolziert herum, als hielte er sich für den Größten. Akzent, hah. Wahrscheinlich hat er ihn von einem Sprachtrainer erlernt. Sie hat nie verstanden,

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