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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Beschützerin.«
    »Was für eine Beschützerin?«
    »Meine Freundin.« Faith strahlt, ganz euphorisch von dieser neuen Wirklichkeit. »Sie ist meine Freundin.«
    Mariah versucht, sich die Gesichter von Faith’ kleinen Spielkameradinnen ins Gedächtnis zu rufen, aber keine von ihnen war zu Besuch, seit Colin gegangen ist, da ihre Familien es der neuenglischen Tradition gemäß vorziehen, sich aus anderer Leute Angelegenheiten herauszuhalten, um sich ja nicht anzustecken. »Wohnt sie in der Nähe?«
    »Ich weiß nicht«, antwortet Faith. »Frag sie doch.«
    Mariah verspürt plötzlich einen Stich in der Herzgegend. Seit Greenhaven stellt sie sich ihren Verstand in Gestalt verschiedener Dominosteine aus Glas vor, die schon durch den leisesten Lufthauch aus der richtigen Richtung umgepustet werden können. Sie fragt sich, ob Realitätsverlust genetisch veranlagt ist wie die Haarfarbe oder die Neigung zu Gewichtsproblemen. »Ist… ist deine Freundin jetzt hier?«
    Faith schnaubt verächtlich. »Was meinst du denn?«
    Eine Fangfrage. »Ja?«
    Faith lacht, setzt sich rittlings auf den Balken und lässt die Beine recht und links herunterbaumeln. »Komm runter, bevor du dir wehtust«, schimpft Mariah.
    »Ich werde mir nicht wehtun. Meine Beschützerin hat es mir gesagt.«
    »Na toll«, brummt Mariah und steigt auf eine der Schaukeln, um nach ihrer Tochter greifen zu können. Da hört sie, dass Faith ganz leise zur Melodie von »Pop Goes the Weasel« vor sich hin singt: »Aber die Frau … des Baumes … in der Miitte des Gartens …«
    »Du kommst ins Haus«, sagt Mariah streng. »Sofort.«
    Erst als ihre Tochter wohlbehalten im Bett liegt, realisiert Mariah, dass Faith’ Rücken nach dem Zirkusunfall endlich soweit verheilt ist, dass sie zum ersten Mal wieder ein Nachthemd tragen kann.
    Abgesehen davon, dass Dr. Kellers Barbie keine Haare mehr hat, spielt Faith gern mit den Spielsachen. Es gibt ein Puppenhaus und Malstifte in Form von Enten, Schweinen und Sternen. Die Barbie ist ihr allerdings unheimlich. Sie hat winzige Löcher im Kopf, dort, wo einmal die Haare steckten, und sieht irgendwie wie ein Monster aus. Sie erinnert Faith daran, wie sie einmal eine Puppe fallen gelassen hat, die weinen und Pipi machen konnte. Der Brustkorb brach auf, und darunter kamen eine Pumpe und Batterien zum Vorschein anstelle des Herzens, das sie sich vorgestellt hatte.
    Am liebsten kommt Faith aber wegen Dr. Keller. Erst dachte sie, sie würde eine Spritze bekommen oder man würde einen dieser Tests mit ihr machen, bei denen der Doktor einem ein ganz langes Wattestäbchen in den Hals steckt. Aber Dr. Keller sieht ihr nur beim Spielen zu und stellt ihr hin und wieder ein paar Fragen. Dann geht sie rüber in das Zimmer, in dem Faith’ Mutter wartet, und Faith darf noch länger ganz für sich allein spielen.
    Heute sitzt Dr. Keller auf einem Stuhl und schreibt in ein Notizbuch. Faith nimmt sich eine Plastikfigur mit der Krone einer Königin und lässt sie dann von ihrer Hand rutschen. Sie vergräbt die Hand in der Tonne voller Buntstifte und lässt die Farben durch ihre Finger gleiten. Dann durchquert sie den Raum und starrt hinab auf die kahlköpfige Barbie. Sie hebt sie auf und trägt sie rüber zum Puppenhaus.
    Es ist kein besonders schönes Puppenhaus, nicht so wie die von ihrer Mami, aber das ist gar nicht so schlecht. Immer wenn Faith einem Puppenhaus ihrer Mutter zu nahe kommt, wird sie angeschrien, und wenn sie es doch einmal schafft, bei einem älteren Modell - in den neuen ist das Mobiliar festgeklebt - einen winzigen Stuhl oder einen Miniaturwebteppich herauszufingern, fürchtet sie, es könnte etwas beim leisesten Atemhauch kaputtgehen. Das Plastik-Puppenhaus bei Dr. Keller hingegen ist eindeutig für Kinder und zum Spielen bestimmt, nicht nur zum Ansehen.
    Ken und eine weitere Barbie, diese mit Haaren, drängen sich bereits in dem kleinen Badezimmer des Puppenhauses. Ken liegt bäuchlings da, das Gesicht in der Toilette. Faith nimmt ihn und lässt ihn ins Schlafzimmer gehen. Sie drückt ihn gegen die Barbie mit den Haaren und hält diese beiden Puppen mit einer Hand fest. Dann nimmt sie mit der anderen Hand die kahlköpfige Barbie und lehnt sie gegen die Schlafzimmerwand, sodass sie den beiden anderen zusieht.
    Dr. Keller rückt ihren Stuhl näher an das Puppenhaus heran. »Es sind aber viele Leute in dem Zimmer.«
    Faith blickt auf. »Ein Vater und eine Mutter und noch eine Mutter.«
    »Zwei Mütter?«
    »Ja. Die hier …«,

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