Die Wahrheit der letzten Stunde
gespaltenen Ast dieses Macintosh-Baumes erschienen.«
Ian wendet sich dem Baum zu. Tatsächlich ähneln die Wachstumsringe des Baumes mit den feinen Linien getrockneten Harzes vage einem Gesicht mit länglichem Kinn und dunklen Augen. Ähnlich den konventionellen Gesichtern von Jesus, sofern man an dergleichen glaubt. Ian lässt bewusst die flache Hand auf das Bild klatschen und verdeckt es. »Gibt es hier ein Gesicht? Vielleicht. Aber wenn die McKinneys keine frommen Katholiken wären, die regelmäßig die Kirche besuchen, hätten sie dann auch Jesus gesehen? Oder hätten sie dann vielleicht gemeint, das Gesicht sähe aus wie Orville Redenbacher oder Großonkel Samuel?« Er lässt seine Worte einen Moment wirken, ehe er hinzufügt: »Ist ein religiöses Wunder wirklich unerklärlich und göttlich? Oder handelt es sich vielmehr um eine Verknüpfung dessen, was zu glauben uns eingeimpft wurde, und dem, was wir sehen wollen?«
Als eine der Nonnen unter dem Baum bei diesen Worten nach Luft schnappt, tritt der Gemeindepriester von Houlton vor. »Mr. Fletcher«, sagt Vater Reynolds. »Es gibt dokumentierte Fälle religiöser Wunder, die sogar vom Heiligen Stuhl als solche anerkannt wurden.«
»Wie die Erscheinung der Jungfrau Maria in einer Pfütze in einer mexikanischen U-Bahn-Station vor ein paar Jahren?«
»Dieses wurde meines Wissens noch nicht offiziell anerkannt.«
Ian schnaubt. »Kommen Sie, Vater - wenn Sie die Jungfrau Maria wären und jemandem erscheinen wollten, würden Sie sich dann ausgerechnet einen Ölfilm auf einem Bahnsteig aussuchen? Können Sie denn nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Schein trügen könnte?«
Der Priester tippt sich mit einem Finger ans Kinn. »Ich schon«, entgegnet er bedächtig. »Und Sie?«
Als ein Kichern durch die Reihen der Umstehenden geht, erkennt Ian, dass der Vater einen Punkt für sich verbucht hat. Gottverdammtes Live-Fernsehen. »Meine Damen und Herren, ich möchte Sie mit Dr. Irwin Nagel von der Fachschaft Forsten der Universität Princeton bekannt machen. Doktor?«
»Holz«, sagt der Professor, »besteht aus verschiedenen Typen von Xylem-Zellen. Durch das Holz ziehen sich Gefäße, die Stoffe leiten und den Baumstamm kräftigen. Das angebliche Bild an dieser Bruchstelle ist nur dem natürlichen Xylem-Prozess zu verdanken. Wenn der Baum älter wird, hören die innersten Lagen auf, Nahrung weiterzuleiten, und verkleben durch Harz, Gummiharz und Tannin, die aushärten und sich dunkler färben. Bei dem Gesieht, das die McKinneys zu erkennen geglaubt haben, handelt es sich nur um Ablagerungen im Kernholz des Baumes.«
Ian nickt, und sein Producer tritt zu ihm. »Was meinst du?«
»Ich weiß nicht, ob sie es dir abkaufen«, antwortet James leise. »Aber das mit der U-Bahn hat mir gefallen.«
Dr. Nagel hebt plötzlich eine große, gefährlich aussehende Astschere. »Das folgende Experiment wird mit Erlaubnis der McKinneys durchgeführt«, sagt er und knipst wahllos einen Ast ab. Das blasse Holz scheint zu erröten, und innerhalb weniger Augenblicke werden die Altersringe des Baumes deutlich sichtbar. »Also. Hat das nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Micky Maus?«
Ian tritt vor. »Der Professor meint, dass das Antlitz Christi buchstäblich eine Laune der Natur ist und nichts Ungewöhnliches für einen Baum dieser Größe und dieses Alters.« Impulsiv fischt Ian einen schwarzen Filzstift aus der Hosentasche und zeichnet eine Form auf die abgetrennte Holzfläche. »Roddy«, ruft er einem ihm bekannten Reporter zu. »Was ist das?«
Der Mann betrachtet die Form mit zusammengekniffenen Augen. »Der Mond.«
Ian zeigt auf Vater Reynolds. »Eine Schale.«
»Ein Halbkreis«, meint Professor Nagel.
Ian steckt mit einem vernehmlichen Klicken den Deckel zurück auf den Stift. »Wahrnehmung ist etwas sehr Subjektives. Ich sage, das ist nicht das Antlitz Jesu. Das ist meine Meinung. Ich mag Recht haben oder auch nicht, ich kann es nicht beweisen, und es ist Ihr gutes Recht, meine Worte in Zweifel zu ziehen. Aber das Gleiche gilt für Bill McKinney und Vater Reynolds, wenn diese sagen >Ja, das ist das Antlitz Jesu<. Auch das ist nur eine subjektive Meinung - eine Ansicht, die sich nicht beweisen lässt. Es ist unerheblich, ob der Papst ihnen beipflichtet, oder der Präsident oder die Mehrheit der ganzen verdammten Welt. Auch wenn sie alle ein Gesicht darin sehen, mag dies so sein oder auch nicht. Und wenn Sie mir nicht glauben, wie können Sie dann ihnen
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