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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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bezeichnet diese Freundin als ihre Beschützerin, was sie noch in ihrem Verhalten bestärkt - jetzt hat sie jemanden, der sie beschützt, sie braucht nicht mehr zu fürchten, dass sich das, was geschehen ist, wiederholt.«
    Mariah nimmt das Blatt entgegen und lächelt über die einfache Zeichnung eines kleinen blonden Mädchens. Es ist Faith - das erkennt sie an dem roten Kleid mit den gelben Blumen, das Faith am liebsten jeden Tag tragen würde. Sie hat sich zwei geflochtene Zöpfe gemalt, die aussehen wie helle Schlangen, und sie hält die Hand einer Frau. »Das ist ihre Freundin«, erklärt Dr. Keller.
    Mariah starrt die Figur an. »Sieht aus wie Casper, das freundliche Gespenst.«
    »Könnte sein. Faith beschwört ein mentales Bild dieser Person herauf, also handelt es sich vermutlich um etwas, das sie irgendwo schon einmal gesehen hat.«
    »Casper mit Haaren«, fügt Mariah hinzu und fährt mit dem Finger über den schwebenden weißen Leib und den braunen Helm um das Gesicht. »Was für eine Beschützerin.«
    »Wichtig ist nur, dass sie für Faith ihren Zweck erfüllt.«
    Mariah holt tief Luft und wagt den Sprung ins kalte Wasser. »Woher wissen Sie das?«, fragt sie leise. »Woher wollen Sie wissen, dass diese Freundin keine innere Stimme ist?«
    Dr. Keller antwortet nicht gleich. Mariah fragt sich, wie viel sie über ihren eigenen Klinikaufenthalt weiß, wie viel Dr. Johansen ihr im Vertrauen erzählt hatte. »Also, zum einen würde ich es nicht als Halluzination bezeichnen. Das würde bedeuten, dass Ihre Tochter psychotische Phasen hat, und Sie haben keinerlei Verhaltensveränderungen erwähnt, die mich zu dieser Annahme veranlassen würden.«
    »Was für Veränderungen?«, fragt Mariah, obwohl sie sehr wohl weiß, was die Psychiaterin meint.
    »Sehr drastischer Art. Schlafstörungen. Phasen, in denen sie völlig geistesabwesend vor sich hin starrt. Aggression. Veränderungen ihrer Essgewohnheiten. Um drei Uhr nachts herumlaufen und behaupten, ihre Freundin hätte ihr gesagt, sie solle aufs Dach klettern.«
    Mariah denkt daran, wie Faith mitten in der Nacht über den Balken der Schaukel gekrochen ist. »Nein«, lügt Mariah. »Nichts dergleichen.«
    Dr. Keller zuckt die Achseln. »Dann seien Sie unbesorgt.«
    »Was ist, wenn sie möchte, dass ihre Freundin mit in ihrem Bett schläft oder mit am Tisch isst?«
    »Spielen Sie mit. Machen Sie kein großes Aufhebens darum. Irgendwann wird Faith sich wieder ohne die mentale Stütze sicher fühlen und sie aufgeben.«
    Sei nett zu der Beschützerin, denkt Mariah und lächelt beinahe.
    »Ich werde noch einmal mit ihr über diese Freundin sprechen, Mrs. White. Aber ich habe wirklich schon Hunderte solcher Fälle erlebt. Neunundneunzig dieser Kinder haben sich ganz wunderbar gemacht.«
    Mariah nickt, kann aber nicht anders, als sich zu fragen, was aus dem einen wird, das übrig bleibt.
     
    Colin lächelt den Leiter der Pflegeheimkette an. »Das dauert nur eine Minute«, sagt er und verlässt lässig das Büro, um im Kofferraum seines Wagens zu kramen. Gar nicht so leicht, die Vorzüge eines verdammten beleuchteten Notausgang-Schilds zu preisen, nachdem dieses Mistding Funken gesprüht hat, sobald es angeschlossen wurde. Gott sei Dank hat Colin noch ein anderes im Kofferraum; den Defekt des anderen kann er auf fehlerhafte Verdrahtung in der Fabrik in Taiwan schieben.
    Das Musterstück ist in einer Kiste vergraben. Colin beißt die Zähne zusammen und tastet an den Rändern entlang nach einem verräterischen Draht. Dann packt er zu und zieht etwas heraus, das sich als kleine Haarspange entpuppt.
    Wie die in die Kiste mit den Mustern gekommen ist, ist ihm ein Rätsel. Er kann sich noch erinnern, wann er Faith das letzte Mal mit dieser Spange im Haar gesehen hat, die silbern im Wasserfall ihres hellen Haares schimmerte. Sie bewahrt ihre Spangen und Klammern in einer alten Zigarrenkiste auf, die Colin früher einmal von seinem Vater geschenkt bekommen hat.
    Colin vergisst den Verwalter des Pflegeheims, vergisst das Notausgang-Schild, das aus der Kiste hängt wie ein defekter Droid. Gedankenverloren fährt er mit dem Daumen über den Rand der Haarspange.
    Er war mit Jessica beim Frauenarzt. Er hat den Herzschlag des neuen Babys gehört. Aber es fällt ihm sehr schwer, Begeisterung für das Ungeborene vorzutäuschen, nachdem er es bei dem einen Kind, das er schon hat, dermaßen vermasselt hat.
    Er hat versucht, sie anzurufen, und einmal ist er sogar zu ihrer Schule gefahren,

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