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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sie tippt die Barbie in Kens Armen an, »… übernimmt das Küssen.«
    »Und was ist mit der anderen?«
    Faith streicht sacht über den kahlen Schädel der zweiten Puppe. »Diese hier das Weinen.«
     
    »Du bist was?«
    Jessica starrt ihn entgeistert an, und da weiß Colin, dass er wieder einen Fehler gemacht hat. »Ich dachte, du würdest dich freuen«, sagt sie und bricht in Tränen aus.
    Colin weiß einfach nicht, was er tun soll. Er ist sicher, dass Jessica von ihm erwartet, etwas Angemessenes zu tun oder zu sagen, aber er kann nur an den Augenblick vor Jahren denken, als die Ärzte in Greenhaven ihm eröffneten, dass ein Schwangerschaftstest bei Mariah positiv ausgefallen sei. Nach einer Weile legt er die Arme um Jessica. »Tut mir leid. Ich freue mich ja auch.«
    Jessica blickt zu ihm auf. »Wirklich?«, fragt sie mit bebender Stimme.
    Colin nickt. »Ich schwöre.«
    Sie dreht sich zu ihm um und schlingt sich um ihn wie eine Urwaldrankpflanze. »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Ich wusste, dass du das als zweite Chance sehen würdest.«
    Zweite Chance wofür?, denkt er, dann erkennt er, dass sie von einer Familie spricht. Er lächelt sie an, an dem Kloß vorbei, der plötzlich in seinem Hals feststeckt. Jessicas Augen leuchten, als sie seine Hand nimmt und auf ihren flachen Bauch legt. »Ich frage mich, wem von uns beiden es ähnlicher sehen wird«, sagt sie leise.
    Colin versucht, sich das Gesicht des Kindes vorzustellen, das sie möglicherweise gezeugt haben. Er schließt die Augen, aber alles, was er sieht, ist Faith.
     
    Mariah richtet sich ächzend auf, nachdem sie Faith’ Turnschuhe mit Doppelknoten geschnürt hat. Heute ist Donnerstag; heute wird sie wie gewöhnlich Staub saugen, die Leihbücher aus der Bibliothek zurückbringen und auf dem Markt frischen Mais besorgen. Und seit einiger Zeit stehen auch Termine bei Dr. Keller mit auf dem Donnerstagsplan. »Okay. Gehen wir.«
    »Mami, du musst auch ihre Schuhe binden.« Seufzend hockt Mariah sich wieder hin und tut so, als würde sie Faith’ eingebildeter Freundin die Schuhe binden. »Mamisie trägt Schuhe mit Schnallen.«
    Nach einer Weile steht Mariah wieder auf. »Sind wir jetzt soweit?« Sie geht an ihrer Tochter vorbei, schnappt sich ihre Handtasche und öffnet die Haustür. Nachdem Faith hindurchgegangen ist, wartet Mariah noch einen Augenblick, sodass auch die Freundin ihrer Tochter hinausgehen kann.
    Ein Lächeln erhellt Faith’ Züge, und auf dem Weg zum Wagen nimmt sie Mariahs Hand. »Sie sagt danke.«
     
    Mariah hätte sich Dr. Keller niemals als ihre eigene Psychiaterin ausgewählt. Zum einen ist sie derart gut organisiert, dass Mariah sich immer wieder dabei ertappt, wie sie noch einmal überprüft, ob sie auch nichts im Wagen vergessen hat - ihre Schlüssel, ihr Taschenbuch, ihr Selbstvertrauen -, bevor sie mit Faith nach oben geht. Außerdem ist Dr. Keller ausgesprochen hübsch - jung, mit Haar von der satten Farbe eines Rotfuchses, und Beinen, die sie nie übereinander zu schlagen vergisst. Mariah hat vor Jahren erkannt, dass sie nicht mit so jemandem sprechen möchte. Dr. Johansen war da schon eher ihre Kragenweite — untersetzt, mit einem müden Ausdruck im Gesicht und menschlich genug, dass es Mariah nichts ausmachte, vor ihm ihre Niederlagen auszubreiten. Aber Dr. Johansen war es gewesen, der ihr empfohlen hatte, mit Faith jemanden aufzusuchen, der ihr helfen würde, die Scheidung zu begreifen und zu verarbeiten. Mariah wollte, dass Faith ebenfalls von Dr. Johansen therapiert wurde, aber der behandelte keine Kinder. Er hatte Dr. Keller empfohlen und sogar persönlich ihre Praxis angerufen, um Mariah zu einem kurzfristigen Termin zu verhelfen.
    Mariah möchte nicht einmal sich selbst eingestehen, dass sie der Ursprung von Faith’ Halluzinationen ist. Immerhin haben die Ärzte in Greenhaven seinerzeit gesagt, sie könnten nicht ausschließen, dass ihr ungeborenes Baby durch das Antidepressivum geschädigt würde. Und sie konnten auch nicht sagen, in welcher Weise.
    Mariah zwingt sich, Dr. Kellers Blick zu erwidern. »Ich mache mir Sorgen wegen dieser imaginären Freundin.«
    »Das sollten Sie nicht. Das ist völlig normal. Sogar gesund.«
    Mariah wölbt die Brauen. »Es ist gesund und normal, mit jemandem zu sprechen, den es gar nicht gibt?«
    »Absolut. Faith hat sich jemanden ausgedacht, der ihr vierundzwanzig Stunden am Tag eine emotionale Stütze ist.« Dr. Keller zieht ein Blatt Zeichenpapier aus Faith’ Akte. »Sie

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