Die Wahrheit der letzten Stunde
warum dieser Mann bei der breiten Masse so gut ankommt. Andererseits hat sie sich nie genug für Religion interessiert, um sich näher mit ihrem Gegenpol zu befassen. »Ich glaube, die Leute sehen seine Show deshalb, weil sie denken, dass Gott, wenn er weiter das Maul so weit aufreißt, während einer Live-Übertragung einen Blitz entsenden und ihn vor aller Augen rösten wird.«
»Das ist sehr alttestamentarisch von dir.« Millie stellt den Ton ab. »Vielleicht hast du ja umfassendere Erinnerungen an die hebräische Schule, als ich dachte.«
Mariah blinzelt. »Ich war auf der hebräischen Schule?«
»Einen Tag, um genau zu sein. Dein Vater und ich dachten, wir sollten den Konventionen entsprechen. Ein paar von deinen Freunden besuchten die Sonntagsschule, also …« Sie lacht. »Als du hinterher nach Hause kamst, sagtest du, du würdest lieber Ballettunterricht nehmen.«
Das überrascht Mariah nicht. Als sie klein war, beschränkten sich ihre religiösen Aktivitäten auf rein gesellschaftliche Ereignisse - eine Jüdin, deren Familie nur an den hochheiligen Tagen in den Tempel ging und auch dann nur, um zu sehen und gesehen zu werden. Mariah erinnert sich noch gut daran, wie sie den Weihnachtsmann in der Mall gesehen und sich gewünscht hatte, sie könnte auf seinen Schoß klettern wie die anderen Kinder. Sie weiß noch, wie ihre Familie an Weihnachten, wenn der Rest der Welt feierte, zum Chinesen essen ging und anschließend ins Kino, wo sie den Saal ganz für sich allein hatten.
Es überraschte niemanden, als Mariah ein Mitglied der Episkopalkirche heiratete.
Mariah kann sich nicht mehr an den Ballettunterricht erinnern, aber ihr ist bewusst, dass es ihr, während sie mit den Füßen noch die fünf Grundpositionen einnehmen kann, schwerfallen würde, alle Zehn Gebote aufzusagen. »Ich wusste gar nicht…«
»Oh!«, ruft Millie aus. »Er ist auf großer Tournee! Durch ganz Amerika! Dienstag war er in New Paltz.«
Mariah lacht. »New Paltz hat einen hohen Atheisten-Anteil?«
»Ganz im Gegenteil. Er ist dort, weil irgendeine Kirche dort angeblich eine Statue besitzt, die blutige Tränen weint. Wie sich herausstellte, lag dem Phänomen eine Schwefelablagerung zugrunde oder so etwas.« Eine Texteinblendung erscheint am unteren Bildschirmrand: HOULTON, MAINE, LIVE! Die Kamera schwenkt und fängt T-Shirts ein mit der Aufschrift DAS SYMBOL DES LEBENS: DER JESUS-BAUM. Dann folgt eine Nahaufnahme von Ian Fletcher in der Tür eines Wohnmobils. »Ein Bild von einem Mann.« Millie seufzt. »Sieh dir nur dieses Lächeln an.«
Mariah blickt gar nicht erst von der Fernsehzeitschrift auf, in der sie blättert. »Klar«, sagt sie. »Ich wette, er amüsiert sich königlich.«
Ian hat sich noch nie in seinem ganzen Leben so elend gefühlt. Ihm ist heiß, er ist schweißgebadet, hat mörderische Kopfschmerzen und entwickelt langsam, aber sicher einen Hass auf Maine, wenn nicht sogar auf ganz Neuengland. Schlimmer noch, er kann sich nach der Sendung nicht einmal auf Erholung freuen. Sein Produzent hat sich geweigert, für ihn ordentliche Hotels zu buchen. Er meinte, dass jemand, der durch das ländliche Amerika tingele, mit beiden italienisch beschuhten Füßen auf dem Boden bleiben sollte. Und so wohnt - des guten Tons halber - Ians Produktionsteam im Houlton Holiday Inn, während er selbst in einer mickrigen Blechbüchse haust.
Er hat darauf verzichtet, zu erwähnen, wie wichtig die Unterbringung für jemanden ist, der trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf findet und ruhelos umherwandert. Seine Schlaflosigkeit geht nur ihn allein etwas an. Und doch kann Ian es kaum erwarten, diese kleinen christlichen Wunder zu entlarven. Und welche Betrügerei sie auch als nächstes unter die Lupe nehmen, es wird verdammt noch mal ein Ritz-Carlton ganz in der Nähe sein.
Auf ein Zeichen von James hin tritt er aus dem gottverfluchten Winnebago und wird sofort von mehreren Reportern umringt. Er bahnt sich einen Weg durch die Journalisten und steigt auf eine Milchkiste, die irgendjemand zurückgelassen hat. »Wie Sie vermutlich alle wissen«, sagt Ian und deutet dabei auf die kleine ergebene Gruppe von Menschen, die sich vor dem ausladenden Apfelbaum der McKinneys versammelt haben, »stellt sich seit einiger Zeit die Frage, ob Houlton, Maine, tatsächlich Schauplatz eines religiösen Wunders ist. William und Bootsie McKinney behaupten, am Morgen des zwanzigsten August sei ihnen nach einem heftigen Gewitter Jesus in einem vom Blitz
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