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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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glauben?«
     
    »Weißt du, die meiste Zeit verstehe ich nicht einmal, was er sagt, aber ich finde ihn trotzdem großartig«, erklärt Millie. »Sieh dir diesen Priester an. Der sieht aus, als würde er gleich platzen.«
    Mariah lacht. »Können wir das abschalten, Ma? Oder kommt als nächstes Jerry Springer?«
    »Sehr komisch. Er ist ein Poet, Mariah. Hör ihn doch nur an.«
    »Er agiert nach dem Skript eines anderen«, entgegnete Mariah, als Ian Fletcher eine Bibel aufschlug und mit vor Sarkasmus triefender Stimme zu lesen begann.
    »>Nur von den Früchten des Baumes, der mitten im Garten steht, hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen und nicht daran rühren, damit ihr nicht sterbet.<« Faith kommt herein und klettert auf das Sofa. »Das Gedicht kenne ich.«
    Das Komische ist, dass der Bibelvers auch Mariah bekannt vorkommt, wenn sie auch nicht versteht, warum. Es ist Jahre her, dass Mariah einen Blick in die Bibel geworfen hat, und ihres Wissens hat Faith noch nie auch nur eine gesehen. Colin und sie haben die religiöse Erziehung ihrer Tochter immer wieder hinausgeschoben, da sie sich beide dabei wie Heuchler vorgekommen wären. »>Die Schlange sprach zu dem Weibe …<« Faith murmelt leise etwas vor sich hin. Auf das Schlimmste gefasst, verschränkt Mariah die Arme vor der Brust. »Was hast du da gesagt, junge Dame?«
    »>Keineswegs, ihr werdet nicht sterben.<« In dem Moment, da Faith die Worte sagt, sagt auch Ian Fletcher sie im Fernsehen, woraufhin er einen Apfel vom Baum der McKinneys pflückt und provokativ hineinbeißt. Und da fällt Mariah wieder ein, wo sie Fletchers Vers schon einmal gehört hat, nämlich erst vor wenigen Tagen, als Faith mitten in der Nacht auf der Schaukel gespielt und sie leise vor sich hin gesummt hat. Erst wenige Tage zuvor, als Faith - die in ihrem jungen Leben noch nie in der Kirche oder im Tempel war, ja nicht einmal in der Sonntagsschule oder in der hebräischen Schule - aus dem Buch der Genesis zitiert hat, als handle es sich um einen Seilhüpf-Reim.
     
    Die Mitarbeiter von Pagan Productions in L.A. halten sich wohlweislich fern von Ian Fletcher, eingeschüchtert von seinen Wutausbrüchen, seiner Fähigkeit, ihre eigenen Worte gegen sie zu verwenden, sowie aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus - nur für den Fall, dass Mr. Fletcher in Bezug auf Gott irrt, möchten sie nicht am Tag des Jüngsten Gerichts mit ihm zusammen ins Höllenfeuer gestoßen werden. Sie werden gut bezahlt dafür, dass sie die Privatsphäre ihres Arbeitgebers wahren und sämtliche Interviewanfragen unnachgiebig abblocken. Aus diesem Grund weiß auch außerhalb von Pagan Productions niemand, dass Ian jeden Dienstagmorgen die Firma verlässt und keine Mehschenseele auch nur ahnt, wohin er sich begibt.
    Natürlich wird unter Ians Angestellten wild spekuliert: Er trifft sich mit seiner Geliebten. Er nimmt an einem Hexensabbat teil. Er ruft den Papst an, der insgeheim ein stiller Teilhaber von Pagan Productions ist. Schon mehrmals haben die mutigsten unter den Angestellten im Rahmen irgendwelcher Wetten versucht, Ian zu beschatten, als er in seinem schwarzen Jeep davonfuhr. Aber er hat noch jeden auf dem Los Angeles Freeway abgehängt. Einer schwört, er habe Ian bis zum Flughafen verfolgt, aber niemand glaubt ihm. Wo kann man schon hinfliegen, um pünktlich zur Aufzeichnung am selben Abend zurück zu sein?
    An dem Dienstagmorgen jener Woche, in der Ian seine Aufklärungssendung vom Jesus-Baum sendet, hält eine schwarze Stretch-Limousine neben dem Winnebago. Ian bespricht gerade mit James und einigen Koproduzenten die Pressekommentare auf seine letzten Äußerungen. »Ich muss gehen«, sagt Ian erleichtert, als er den Wagen heranfahren sieht. Er hat etwas mit der Zeit jonglieren und Zugeständnisse machen müssen, da er in dieser Woche von Maine aus startet anstatt von L.A.
    »Du musst gehen?«, fragt James perplex. »Wohin?«
    Ian zuckt die Achseln. »Irgendwohin. Tut mir leid, ich dachte, ich hätte erwähnt, dass ich heute früher gehen würde.«
    »Hast du nicht.«
    »Ich bin heute Abend zurück, dann können wir weitermachen.« Er schnappt sich Aktentasche und Lederjacke und schlägt die Tür hinter sich zu.
    Exakt zweieinhalb Stunden später geht er entschlossenen Schrittes die Flure hinunter, mit der Selbstverständlichkeit von jemandem, der nicht zum ersten Mal da war. Einige der Leute, an denen er vorbeikommt, nicken ihm zu, als er die Ruhezone ansteuert mit den Eichentischen, Fernsehern und

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