Die Wahrheit der letzten Stunde
Chintz-Sofas. Ian geht auf einen Ecktisch zu, an dem ein Mann sitzt. Obgleich es warm ist in dem Raum, trägt Michael einen Troyer mit einem Buttondown-Hemd darunter. Seine Hände gleiten über ein Kartenspiel, von dem er eine Karte nach der anderen abhebt und umdreht. »Karodame«, murmelt er. »Piksechs.«
Ian lässt sich auf einen Stuhl an seiner Seite sinken. »Hallo«, sagt er sanft.
»Herzkönig. Kreuzzwei. Herzsieben.«
»Wie war deine Woche, Michael?« Ian rückt näher.
Die Schultern des Mannes wiegen sich von einer Seite auf die andere. »Kreuzsechs!«, sagt er fest.
Ian seufzt und nickt. »Kreuzsechs, Kumpel.« Er geht wieder ein wenig auf Distanz. Er sieht zu, wie der Mann an seiner Seite die Karten umdreht: rot, schwarz, rot, schwarz. Michael dreht ein As um. »O nein«, stöhnt er. »As und…«
»Trumpf…«, beendet Ian den Satz.
Zum ersten Mal wirft Michael ihm einen flüchtigen Blick zu. »As und Trumpf«, wiederholt er und fährt dann fort, Karten zu zählen.
Ian sitzt ganz still da, bis exakt eine Stunde seit seiner Ankunft vergangen ist - nicht, weil Michael seine Anwesenheit wahrnähme, sondern weil Michael jede noch so geringfügige Abweichung der Routine registrieren würde. »Wir sehen uns in einer Woche, Kumpel«, murmelt Ian.
»Kreuzdame. Herzacht.«
»Also dann …«, sagt Ian und schluckt hart. Er verlässt das Gebäude und kehrt zurück nach Maine.
Faith hat kürzlich entdeckt, dass man, wenn man die Augen ganz fest zukneift und ganz fest mit den Daumen über die Lider reibt, Dinge sieht: kleine Sterne und grünblaue Kreise, von denen sie denkt, dass es sich um ihre Iris handelt, als gäbe es eine Art Spiegel auf der Innenseite ihrer Augenlider. Sie zieht an den Rändern der Lider und sieht einen Wirbel von Rot, die Farbe des Zorns, wie sie meint. Sie hat diesen neuen Trick in letzter Zeit häufig angewandt, auch wenn er gestern zu Schulbeginn nicht so gut funktioniert hat. Willie Mercer hat gesagt, dass nur Babys Butterbrotdosen mit der kleinen Meerjungfrau hätten, und als sie versuchte, ihn zu ignorieren, und stattdessen im Flüsterton mit ihrer Beschützerin sprach, lachte Willie und sagte, sie hätte nicht alle Tassen im Schrank. Also kniff sie die Augen zu, um ihn auszublenden, und eins führte zum anderen, und ehe sie sich versah, rief die Schulkrankenschwester bei ihr zu Hause an und berichtete ihrer Mutter, dass Faith sich ständig die Augen reibe; bestimmt habe sie eine Bindehautentzündung.
»Tun deine Augen weh, Faith?«, fragt Dr. Keller jetzt.
»Nein, es glaubt nur jeder, sie würden wehtun.«
»Das stimmt. Deine Mutter hat mir von deinem ersten Schultag erzählt.«
Faith blinzelt ins fluoreszierende Lampenlicht. »Ich war nicht krank.«
»Nein.«
»Ich tue es einfach gern. Ich sehe dann Sachen.« Sie hebt herausfordernd das Kinn. »Versuchen Sie’s.«
Zu ihrer Überraschung nimmt Dr. Keller die Brille ab und reibt sich die Augen, so wie Faith es gemacht hat. »Ich sehe etwas Weißes, das aussieht wie der Mond.«
»Das ist das Innere Ihres Auges.«
»Wirklich?« Dr. Keller setzt die Brille wieder auf. »Weißt du das ganz bestimmt?«
»Nein, nicht wirklich«, gibt Faith zu. »Aber glauben Sie nicht auch, dass Ihre Augen auch dann noch sehen, wenn die Lider geschlossen sind?«
»Ich wüsste keinen Grund, weshalb sie das nicht tun sollten. Siehst du deine Freundin, wenn du die Augen auf diese Weise geschlossen hast?«
Faith spricht nicht gerne von ihrer Beschützerin. Andererseits hat Dr. Keller ihre Brille abgesetzt und sich die Augen gerieben, etwas, das Faith sich nie hätte vorstellen können. »Manchmal«, entgegnet Faith mit möglichst dünner Stimme.
Dr. Keller mustert sie aufmerksam, eine Mühe, die sich sonst kaum jemand macht. Ihre Mutter reagiert auf das, was Faith ihr erzählt, gewöhnlich mit »Aha« oder »Wirklich?«, aber tatsächlich gehen ihr Billionen anderer Dinge durch den Kopf, während Faith versucht, ihr etwas zu sagen. Und Mrs. Grenaldi, ihre Lehrerin, sieht niemandem in die Augen. Sie blickt immer über die Köpfe der Kinder hinweg, als würden ihnen Käfer durch das Haar kriechen.
»Hast du deine Freundin schon lange?«
»Welche Freundin?«, fragt Faith, obwohl sie weiß, dass sie Dr. Keller nichts vormachen kann.
Die Psychiaterin beugt sich vor. »Hast du noch andere Freunde, Faith?«
»Klar. Ich spiele mit Elsa, Sarah und Gary, wenn meine Mutter es möchte, aber Gary wischt sich die Nase an meinen Kleidern ab, wenn
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