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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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er glaubt, dass ich nicht hinsehe.«
    »Ich meine, noch andere Freunde wie deine Beschützerin.«
    »Nein.« Faith denkt nach. »Nein, ich kenne sonst niemanden wie sie.«
    »Ist sie jetzt hier bei uns?«
    Faith blickt sich unbehaglich um. »Nein.«
    »Spricht deine Beschützerin mit dir?«
    »Ja.«
    »Sagt sie Dinge, die dir Angst machen?« Faith schüttelt den Kopf. »Sie tröstet mich, macht mir Mut.«
    »Berührt sie dich?«
    »Manchmal.« Faith schließt die Augen und drückt die Daumen auf die Augäpfel. »Sie schüttelt mich nachts wach. Und sie umarmt mich oft.«
    »Das klingt nett«, meint Dr. Keller. »Ich wette, das gefällt dir.«
    Verlegen nickt Faith. »Sie sagt, mich hat sie am meisten lieb.«
    »Dann ist sie nur deine Freundin und niemandes sonst?«
    »0 nein«, widerspricht Faith. »Sie hat noch andere Freunde. Die trifft sie nur nicht mehr so oft. Es ist wie bei mir. Früher bin ich ständig rüber zu Brianna gegangen, aber jetzt geht sie auf eine andere Schule, sodass wir nicht mehr oft miteinander spielen.«
    »Erzählt deine Beschützerin dir von ihren anderen Freunden?«
    Faith nennt verschiedene Namen. »Sie hat vor langer Zeit mit ihnen gespielt, aber heute nicht mehr.«
    Dr. Keller ist sehr still geworden. Das ist sonderbar; gewöhnlich stellt sie Faith Fragen über Fragen, bis Faith sich am liebsten die Ohren zuhalten würde. Faith beobachtet die Hände der Ärztin, die ein ganz klein wenig zittern, so wie die ihrer Mutter, als sie noch die Tabletten nahm.
    »Faith«, sagt Dr. Keller schließlich. »Sag mal…« Sie holt tief Luft, ehe sie fortfährt. »Hast du je um eine Freundin wie diese gebetet?«
    Faith zieht die Nase kraus. »Was ist beten?«
    Der unnatürliche Glanz in ihren Augen verrät Dr. Keller, dass Mariah kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht. Vielleicht ist es auch bereits passiert, das ist schwer zu sagen, da Faith so nett jenseits des Beobachtungsfensters spielt. Dr. Keller nimmt an ihrem Schreibtisch Platz und bedeutet Mariah, sich ebenfalls zu setzen. »Faith hat heute mir gegenüber ein paar Namen erwähnt: Hermann Joseph aus Steinfeld. Elisabeth aus Schönau. Juliana Falconieri.« Dr. Keller blickt auf.
    Mariah zuckt die Achseln. »Ich glaube nicht, dass wir jemanden kennen, der Hermann heißt. Und liegt Schönau irgendwo in der Nähe?«
    »Nein. Mrs. White«, erwidert Dr. Keller leise. »Das tut es nicht.«
    Mariah lacht nervös. »Nun, vielleicht hat sie sich diese Namen ausgedacht. Ich meine, wenn sie sich schon eine imaginäre Freundin ausgedacht hat…?« Sie verstummt und fühlt, wie ihre Handflächen feucht werden, obwohl sie selbst nicht sagen kann, warum sie eigentlich so nervös ist.
    Dr. Keller massiert sich die Schläfen. »Das sind sehr komplizierte Namen, zu kompliziert, als dass eine Siebenjährige sie sich spontan ausdenken würde. Im übrigen sind es keine Phantasienamen. Es handelt sich um Menschen, die tatsächlich existieren oder besser existiert haben.«
    Noch verwirrter nickt Mariah. »Vielleicht handelt es sich um etwas, das sie in der Schule gelernt hat. Im vergangenen Jahr war Faith Expertin in Sachen Regenwald.«
    »Besucht sie die Gemeindeschule?«
    »O nein. Wir sind nicht katholisch.« Mariah lächelt zögernd. »Warum?«
    Dr. Keller hat sich ihr gegenüber auf einer Ecke ihres Schreibtischs niedergelassen. »Bevor ich heiratete und Psychiaterin wurde, war ich Mary Margaret O’Sullivan aus Evanston in Illinois. Ich bekam jeden Sonntag die Kommunion, und anlässlich meiner Konfirmation gab es eine große Feier. Ich besuchte bis zu meinem Abschluss und bevor ich mein Studium in Yale antrat die Gemeindeschule. Auf meiner Schule habe ich gelernt, wer Herman Joseph ist. Und Elisabeth und Juliana. Sie sind katholische Heilige, Mrs. White.«
    Mariah ist sprachlos. »Na ja«, sagt sie, weil sie nicht weiß, was von ihr erwartet wird.
    Dr. Keller beginnt, auf und ab zu gehen. »Ich glaube, wir haben Faith nicht richtig zugehört, was ihre Beschützerin betrifft…«
    »Was meinen Sie damit.«
    »Ihre Tochter«, entgegnet Dr. Keller ausdruckslos. »Ich glaube, sie sieht Gott.«
     
    KAPITEL 3
     
    Der Geist ist sein eigenes Zuhause, und in sich selbst kann er aus einem Paradies eine Hölle machen und aus einer Hölle ein Paradies.
    John Milton Paradise Lost
     
    20. September 1999
     
    IN GREENHAVEN GAB es eine Frau, die glaubte, die Jungfrau Maria wohne in ihrer Ohrmuschel. »Damit sie mir besser Prophezeiungen zuflüstern kann«, erklärte sie.

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