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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Gesicht in den Händen. Zuerst schenkt sie dem schabenden Geräusch von jenseits der Bahre keine Beachtung. Als sie schließlich aufblickt, ist es Faith gelungen, den anderen Klappstuhl ans Bett zu ziehen. Sie stellt sich auf den Sitz, presst die Wange an Millies Brust und legt linkisch die Arme um ihre Großmutter.
    Einen Moment lang sträuben sich Mariah die Nackenhaare, und sie streicht sie mit einer Hand wieder glatt. Aber sie nimmt in keiner Sekunde den Blick von Faith - beobachtet, wie Faith sich auf die Ellbogen stützt, Millies Gesicht mit beiden Händen umfasst und sie auf den Mund küsst, woraufhin Millie ganz langsam die Arme hebt und sich an ihre Enkeltochter klammert wie eine Ertrinkende.
     
    KAPITEL 5
     
    Was sollte ein einfaches Kind, das unbeschwert Luft holt und das Leben im ganzen Körper spürt, vom Tod wissen?
    William Wordsworth
     
    30. September 1999
     
    NOCH VIELE STUNDEN, nachdem meine Mutter ins Leben zurückgeholt wurde, zittere ich am ganzen Leib. Ich sitze in der Notaufnahme, während derselbe Arzt, der zuvor den Totenschein ausgestellt hat, sie eingehend untersucht und abschließend für gesund befindet. Ich klemme die Hände unter die Oberschenkel und tue, als wäre es etwas ganz Alltägliches, dass eine Frau, die für klinisch tot befunden wurde, jetzt wieder durch die Krankenhausflure läuft.
    Der Arzt möchte meine Mutter zur Beobachtung dabehalten. »Auf keinen Fall«, sagt sie entschieden. »Ich laufe, ich bin quietschfidel, und ich schwitze nicht einmal. Ich wünschte, es würde mir immer so gut gehen wie jetzt.«
    »Ma, es ist wahrscheinlich keine so gute Idee, heute schon nach Hause zu gehen. Immerhin hattest du einen Herzstillstand.«
    »Sie waren tot«, bekräftigt der Arzt. »Auf der medizinischen Hochschule gab es Typen, die Geschichten zu erzählen hatten von Leichen, die sich plötzlich in der Pathologie aufsetzten, gerade als der Leichensack geschlossen wurde. Ich wollte auch immer eine solche Geschichte erzählen können.« Als meine Mutter und ich darauf einen Blick tauschen, räuspert er sich. »Jedenfalls möchten wir ein EKG machen, ein CT und noch ein paar weitere Tests. Und wir möchten Ihre Herzmedikation überprüfen.«
    Meine Mutter schnaubt verächtlich. »Sie meinen, Sie wollen ganz sicher gehen, dass ich kein Gemüse bin.«
    »Wir wollen sichergehen, dass Sie keinen Rückfall erleiden«, widerspricht der Doktor. »Lassen Sie mich eine Schwester holen, die Sie nach oben in ein Patientenzimmer bringt.«
    »Herzlichen Dank, aber ich bin sehr wohl in der Lage, eigenständig dorthin zu gehen«, sagt sie und hüpft vom Untersuchungstisch.
    Der Arzt wendet sich immer noch kopfschüttelnd zum Gehen. Ich laufe hinüber, zupfe an seinem Ärmel und halte ihn unmittelbar hinter dem Trennvorhang auf. »Ist sie wirklich in Ordnung? Oder ist das nur eine Störung des Nervensystems, und in einer Stunde liegt sie im Koma?«
    Der Arzt mustert mich nachdenklich. »Das kann ich nicht sagen«, gibt er schließlich zu. »Ich habe schon erlebt, dass Patienten mit Herzstillstand im OP nach einiger Zeit wieder zu sich gekommen sind. Ich habe auch erlebt, dass Menschen, die Monate im Koma lagen, plötzlich aufwachten und sich unterhalten konnten, als wäre nichts geschehen. Ich kann nur sagen, dass Ihre Mutter klinisch tot war, Mrs. White. Das steht auch im Bericht der Sanitäter … Teufel, es steht sogar in meinem eigenen Bericht. Ob es sich nur um eine vorübergehende Besserung handelt? Ich weiß es nicht. So etwas wie das habe ich noch nie erlebt.«
    »Ich verstehe«, sage ich, obwohl das nicht stimmt.
    »An ihrem Herzen sind keinerlei Läsionen festzustellen. Natürlich müssen wir erst noch weitere Untersuchungen durchführen, aber im Augenblick scheint es so stark zu sein wie das eines Teenagers.« Er tätschelt meinen Unterarm. »Ich kann es nicht erklären, Mrs. White, also werde ich es gar nicht erst versuchen.«
     
    »Würdest du bitte damit aufhören?« Meine Mutter schüttelt meinen stützenden Arm ab. »Es geht mir gut.«
    Mit mir und Faith voran verlässt sie die Notaufnahme. Die Schwester am Tresen bekreuzigt sich. Der Sanitäter, der den Krankenwagen gefahren hat und bei einem Blätterteiggebäck mit der Schwester geplaudert hat, lässt seine Styroportasse Kaffee fallen.
    »Entschuldigen Sie«, sagt meine Mutter zu einer Assistenzärztin. »Wo geht es bitte zu den Fahrstühlen?« Die Frau zeigt es ihr, und meine Mutter wirft einen Blick zurück, auf mich. »Was

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