Die Wahrheit der letzten Stunde
einer Schaumstoffmatratze verbringen muss anstatt im Bett eines Luxushotels, verschlimmert seine Schlafprobleme, sodass er nicht mehr klar denken kann und ihm jeder mit zwei X-Chromosomen attraktiv erscheint.
Ian konzentriert sich wieder auf Faith White, die halb verborgen unter dem Arm ihrer Mutter vorbeigeht. Aber dann macht er den Fehler aufzublicken - und begegnet dem Blick von Mariah White. Kalt, grün, zornig. Die Schlacht beginnt, denkt Ian unwillig und unfähig, den Blick abzuwenden, bis sie entschlossen die Tür hinter ihnen schließt.
»Nennen Sie mir nur ein Beispiel — außer Gott — für etwas, woran wir blind glauben«, fordert Ian in einem Tonfall, der klingt wie ein Ruf zu den Waffen, die kleine Menschengruppe auf, die sich um ihn versammelt hat. Die Neuigkeit von Ians Anwesenheit hat inzwischen eine gewisse Anzahl von Schaulustigen angelockt sowie mehrere Pressevertreter. »So etwas gibt es nicht! Nichts würden wir unbesehen glauben. Nicht einmal, dass die Sonne jeden Tag von neuem aufgeht. Ich weiß, dass sie morgen wieder da sein wird, aber das ist etwas, das ich wissenschaftlich belegen kann.« Er lehnt sich an das Geländer der hölzernen Plattform, die für medienwirksame Momente wie diesen eilig neben dem Winnebago errichtet wurde. »Kann ich die Existenz Gottes beweisen? Nein.«
Er beobachtet die Menschen aus den Augenwinkeln; sie tuscheln, überlegen, was sie überhaupt bewogen hat, sich diese wundersame Faith White anzusehen. »Sie wissen, was Glaube, was Religion ist?« Er schaut vielsagend auf die grimmig dreinblickenden Mitglieder des Ordens der Großen Passion in ihren tiefroten Roben. »Es ist ein Kult. Wer gibt uns Religion? Unsere Eltern unterziehen uns einer Gehirnwäsche, wenn wir vier oder fünf Jahre alt sind und am empfänglichsten für phantastische Ideen. Man redet uns ein, dass wir an Gott zu glauben haben, also tun wir das auch brav.«
Ian zeigt in Richtung der White-Farm. »Und jetzt genügt das Wort eines kleinen Mädchens, das, wie ich anmerken möchte, genau im richtigen Alter ist, um an Märchen, Kobolde und den Osterhasen zu glauben, um Sie zu überzeugen?« Er mustert die Menge mit geübtem Blick. »Ich frage Sie noch einmal: Woran sonst glauben wir blind?«
Ian grinst über die anhaltende Stille. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Das Letzte, woran Sie mit absoluter und unerschütterlicher Gewissheit geglaubt haben, war … der Weihnachtsmann.« Er wölbt die Brauen. »Ganz egal, wie unmöglich es schien, wie viele Gegenbeweise zu seiner Existenz es gab, als Kind wollten Sie an ihn glauben, und deshalb haben Sie auch an ihn geglaubt. Und so respektlos der Vergleich klingen mag, dieser Glaube unterschied sich nur unerheblich von jenem an Gott. Beide gewähren eine Belohnung für anständiges Benehmen. Beide agieren, ohne je sichtbar in Erscheinung zu treten. Sie stützen sich massiv auf die Hilfe mystischer Wesen - Elfen im einen und Engel im anderen Fall.«
Ian blickt nacheinander auf eins der Ordensmitglieder, auf einen Lokalreporter und eine Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm. »Wie kommt es, dass keiner von Ihnen heute noch an den Weihnachtsmann glaubt? Sie sind erwachsen geworden und haben erkannt, wie unmöglich das Ganze wäre. Aus einer Tatsache wurde ein schönes Märchen, das man an seine Kinder weitergibt. Genau so wie Ihre Eltern Ihnen von Gott erzählt haben, als Sie noch klein waren.« Er legt eine kurze Pause ein und lässt die Stille auf die Anwesenden wirken. »Sehen Sie denn nicht, das auch Gott nur ein Mythos ist?«
Millie Epstein schlägt schwungvoll die Wagentür zu. Mariahs wunderschönes Farmhaus ist, soweit sie sehen kann, von Spinnern umlagert. Mindestens zwanzig Personen drängen sich auf der langen Zufahrt, von denen einige sogar so dreist sind, das Gras entlang der vorderen Veranda niederzutrampeln. Dazu gehören auch eine Hand voll Leute in seltsamen roten Nachthemden, einige neugierige Ortsansässige und zwei Fernseh-Übertragungswagen mitsamt der Reporter. Millie schiebt sie unsanft aus dem Weg, bis sie die Veranda erreicht, wo sie auf den Polizeichef trifft. »Thomas«, sagt sie, »was soll dieses Affentheater?«
Der Polizeichef zuckt die Achseln. »Ich bin selbst gerade erst gekommen, Mrs. Epstein. Einer der Reporter da drüben sagt, es gäbe wohl ein paar Leute, die behaupten, ihre Enkelin sei Jesus oder so etwas. Und ein anderer Kerl behauptet, Faith sei nicht nur nicht Jesus, sondern Jesus existiere gar
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