Die Wahrheit der letzten Stunde
verlangen, nicht wahr?«
»Worauf wartest du noch?«
Ian nimmt die Schlüssel entgegen. »Schon gut«, sagt er und sieht sich nach dem BMW des Producers um. Er macht sich nicht einmal die Mühe, nach einem Kameramann zu rufen, wohl wissend, dass man ihm doch den Zutritt zum Krankenhaus verwehren würde. »Keine Rennen mit meinem Winnebago«, ruft er noch, dann fährt er davon.
Im Wartezimmer der Notaufnahme schaut er fern; der Empfang ist schlecht, und es läuft gerade ein Kinder-Cartoon. Weit und breit nichts von Mariah White zu sehen. Faith trifft zehn Minuten später ein, in Begleitung eines jungen Polizisten. Sie setzen sich ein paar Reihen weiter, und in Abständen dreht sie sich auf ihrem Stuhl um und starrt Ian an. ‘
Das macht diesen richtig nervös. Ian hat kein sehr ausgeprägtes Gewissen, sodass seine Arbeit ihn selten nachdenklich stimmt. Immerhin sind die Menschen, die er gewöhnlich am meisten aufregt, gottverfluchte Baptisten aus dem Süden, zu denen er selbst früher gehört hat und die in Ians Augen so sehr damit beschäftigt sind, tagtäglich ihre Dosis Jesus zu schlucken, dass sie es dringend nötig haben und es nicht schaden kann, sie hin und wieder an ihrer Selbstgerechtigkeit zu kratzen. Einmal wurde eine Frau bei einer seiner Ansprachen im Central Park ohnmächtig, aber das hier ist etwas völlig anderes. Faith Whites Großmutter - Ian kennt nicht einmal ihren Namen - nun, das, was geschehen ist, ist teilweise auf etwas zurückzuführen, das er gesagt oder getan hat.
Es ist eine Story, sagt er sich. Du kennst sie nicht einmal, und es ist deine Story.
Der Pieper des Polizisten ertönt. Er wirft einen Blick auf das Display, wendet sich dann Faith zu und sagt ihr, sie solle sich nicht von der Stelle rühren. Auf dem Weg zu einer Reihe öffentlicher Fernsprecher macht der Polizist am Schwesterntisch Halt und bittet offenbar die dort sitzende Frau, das Mädchen einen Moment im Auge zu behalten.
Als Faith sich wieder zu ihm umdreht und ihn anstarrt, schließt Ian die Augen. Dann hört er ihre leise, dünne Stimme. »Mister?«
Plötzlich sitzt sie neben ihm. »Hallo«, sagt er nach einem Moment.
»Ist meine Oma tot?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Ian wahrheitsgemäß. Darauf sagt sie nichts mehr, und neugierig geworden blickt Ian auf sie hinab. Faith hat sich brütend an die Armlehne ihres Stuhls gekuschelt. Er sieht nicht jemanden, der von Gott auserwählt wurde, sondern ein verängstigtes kleines Mädchen.
»Ich wette, du magst die Spiee Girls«, sagt er in dem ungeschickten Versuch, sie abzulenken. »Ich bin den Spiee Girls schon begegnet.«
Faith blickt blinzelnd zu ihm auf. »Sind Sie schuld, dass meine Oma gefallen ist?«
Ian fühlt, wie sein Magen sich verkrampft. »Ich glaube, ja, Faith. Und es tut mir furchtbar leid.«
Sie wendet sich von ihm ab. »Ich mag Sie nicht.«
»Da bist du in guter Gesellschaft.« Er wartet, dass sie geht oder dass der Polizist sie holen kommt, aber noch ehe es soweit ist, kommt Mariah White aus der Notaufnahme und sieht sich mit verweinten Augen um. Ihr Blick fällt auf Faith, und das Mädchen springt auf und wirft sich in die Arme seiner Mutter. Mariah mustert Ian kalt. »Der Polizist… er musste …«, stammelt Ian und zeigt den Flur hinunter.
»Halten Sie sich fern von meiner Tochter«, sagt sie steif, legt Faith den Arm um die Schultern und führt sie zurück durch die Schwingtüren der Notaufnahme.
Ian blickt ihnen nach und wendet sich dann an eine Schwester. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Mrs. Whites Mutter es nicht geschafft hat?«
Die Schwester sieht nicht einmal von ihrer Arbeit auf. »Sie gehen recht.«
Das Fatale an einer Tragödie ist, dass sie unvermittelt eintritt, mit der ganzen Kraft und Urgewalt eines Orkans. Mariah hält Faith’ Hand ganz fest, als sie neben dem Leichnam ihrer eigenen Mutter stehen. Im Augenblick ist niemand vom Personal da, und eine freundliche Schwester hat die Schläuche und Infusionsnadeln entfernt, bevor Faith gekommen ist, um von ihrer Großmutter Abschied zu nehmen. Es war Marians Entscheidung, Faith hereinzulassen. Sie hätte es zwar lieber nicht getan, aber sie weiß, dass Faith ihr sonst nicht glauben wird, dass ihre Großmutter tatsächlich gestorben ist.
»Weißt du, was es heißt, dass Oma tot ist?«, fragt Mariah mit belegter Stimme.
Bevor Faith darauf antworten kann, bricht Mariah in Tränen aus. Sie lässt sich auf einen Stuhl neben Millies Leichnam sinken und vergräbt das
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