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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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verlassen, und ich wollte mich nur nach Ihrer Mutter erkundigen.« Er deutet auf Fahrzeuge am Straßenrand. »Ohne die ganze Meute.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Geht es ihr gut?«
    Ich nicke, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Was allerdings nicht Ihr Verdienst ist.«
    Bilde ich es mir nur ein, oder errötet Ian Fletcher tatsächlich? »Ja, ich weiß, und es tut mir sehr leid. Ich hätte nicht…« Er zögert und schüttelt dann den Kopf.
    »Hätten was nicht?«
    In seinen Augen liegt ein seltsamer Glanz. »Ich hätte es nicht tun sollen, sonst nichts.«
    »Eine Entschuldigung von Ian Fletcher? Das sollte ich auf Band aufnehmen.« Aber in der nächsten Sekunde ist er fort, und der einzige Beweis, dass ich die Begegnung nicht geträumt habe, ist die rote Glut seines Zigarillos vor meinen Füßen.
     
    4. Oktober 1999
     
    Am nächsten Tag fahre ich ins Krankenhaus, wo Dr. Weaver noch einmal das Herz meiner Mutter untersuchen möchte. Ich bin schockiert, als ich sie im Aufenthaltsraum der Station in Gesellschaft Ian Fletchers antreffe. »Mariah«, sagt sie, als wären wir alle zum Tee verabredet. »Das ist Mr. Fletcher.«
    Ich drücke Faith’ Hand so fest, dass sie aufschreit. »Wir kennen uns bereits. Würden Sie uns einen Moment entschuldigen?« Ich nehme meine Mutter beiseite, Faith im Schlepptau. »Würdest du mir mal verraten, was er hier zu suchen hat?«
    »Beruhige dich, Mariah. Ich schwöre, dass du noch einen Infarkt bekommst, wenn du dich so aufregst. Ich habe Mr. Fletcher hergebeten.« Sie verstummt und nickt ihm lächelnd zu. »Damit er seine Story bekommt und wieder aus unserem Leben verschwindet. Soll er doch filmen, was er will; ich habe nichts zu verbergen.«
    Ich kneife mir in den Nasenrücken. »Wie willst du sicher sein, dass er dich nicht als eine Art Zombie oder Vampir hinstellt und trotzdem hierbleibt?«
    »Ich weiß es eben.«
    »Na großartig, da bin ich aber beruhigt.« Wieder packe ich die Hand meiner Tochter fester. »Faith will ihn auch nicht hier haben.«
    »Sie reagiert nur auf deine Schwingungen, Liebes.«
    »Ich habe keine Schwingungen. So etwas wie Schwingungen gibt es gar nicht.«
    »Und so etwas wie Gott auch nicht, richtig?« Meine Mutter lächelt unschuldig.
    »Schon gut.« Ich gebe mich geschlagen. »Das ist deine Show. Wenn du Ian Fletcher hierhaben willst, ist das allein deine Angelegenheit. Aber er wird weder mit mir noch mit Faith sprechen, und ich werde keinen Fuß in dieses Untersuchungszimmer setzen, ehe du ihm das nicht unmissverständlich klar gemacht hast.«
    Ian Fletcher bezieht zusammen mit seinem Kamerateam und seinem Producer in einer Ecke des Untersuchungszimmers Stellung. Er verspricht, seine Untersuchungen auf meine Mutter zu beschränken und zückt triumphierend eine von ihr unterschriebene Einverständniserklärung sowie eine Drehgenehmigung der Klinik, als ich ihn darauf anspreche. Er gibt Anweisungen, Tragen wegzuräumen, die Beleuchtung wird angepasst, und er macht ein ärgerliches Gesicht, als ich Faith aus dem Radius der Kamera entferne. Ich geselle mich zum Krankenhausverwalter, der gekommen ist, um die Dreharbeiten zu überwachen, und wir spielen beide Wachhund. Als Fletcher seinen Kameramann anweist, sich über die Schulter des Arztes zu beugen, um eine Nahaufnahme der Krankenakte zu filmen, unterbreche ich. »Das ist ein vertrauliches Dokument.«
    »So wie die ganze Prozedur, Miss White. Ihre Mutter hat einen Vertrag unterschrieben, in dem steht, dass wir mit einer Handkamera filmen dürfen, was immer wir wollen.«
    »Es interessiert mich nicht, was Sie wollen.«
    Ian Fletcher sieht mich an und lächelt dann langsam. »Schade«, sagt er.
    Ich gehe weg und frage mich, was aus dem Mann geworden ist, der in der’vergangenen Nacht so ehrlich mitfühlend war. Ist das seine Fernsehpersönlichkeit, das genaue Gegenteil seines privaten Ichs?
    Mit verschränkten Armen sehe ich zu, wie Ian Fletchers Kameramann das Elektrokardiogramm und den Stressbelastungstest meiner Mutter filmt. »Mrs. Epstein«, stellt Dr. Weaver abschließend fest, »Sie haben die Konstitution einer Achtzehnjährigen. Es könnte gut sein, dass Sie mich überleben.« Er wendet sich Ian zu, seine fünfzehn Minuten des Ruhmes sichtlich genießend. »Wissen Sie, ich bin ein Mann der Wissenschaft, Mr. Fletcher. Aber abgesehen von einer Herztransplantation gibt es keine wissenschaftliche Erklärung für die drastische Veränderung zwischen den Bluthochdruckmessungen und Belastungs-EKGs von vor

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