Die Wahrheit der letzten Stunde
dafür, und ich werde ihr zuhören.«
Colin wird plötzlich ganz ruhig. »Du glaubst wirklich, dass sie mit Gott spricht, Tote auferwecken kann und diesen ganzen Müll? Das ist verrückt.«
»Nein, das ist es nicht. Und ich bin es auch nie gewesen.« Ich stehe auf. »Du hast beschlossen, mir das Sorgerecht für Faith zu überlassen. Ihr nächster Besuchstermin bei dir ist an Thanksgiving. Bis dahin möchte ich nichts mehr von dir hören, Colin.«
Ich gehe zur Haustür und halte sie auf, obgleich Colin einige Zeit braucht, den Schock zu verdauen, von mir hinausgeworfen zu werden. Steif geht er zur Tür. »Du wirst nichts von mir hören«, sagt er leise. »Du wirst von meinem Anwalt hören.«
Ungeachtet meiner neuen Selbstsicherheit zittere ich noch Stunden, nachdem Colin gegangen ist, am ganzen Körper. Ich schalte unten sämtliche Lichter an und gehe von einem Zimmer zum nächsten auf der Suche nach einer Stelle, an der ich mich wohl fühle. Schließlich setze ich mich an den Esszimmertisch und spiele vorsichtig mit den Fensterläden des Farmhaus-Modells herum, das ich vor Jahren gebaut habe. Es entspricht nicht mehr dem neuesten Stand. Die Tapete im Badezimmer des Elternschlafzimmers ist eine andere, und Faith hat jetzt ein Bett anstelle einer Wiege. Und - natürlich - ist es jetzt das Heim von zwei Personen anstatt drei.
Ich bin wütend auf Colin wegen dem, was er getan hat, wegen seiner Drohungen. Mein Zorn jagt mich die Treppe hinauf und über den Flur bis zu Faith’ Zimmertür, wo ich zögernd stehen bleibe wie ein Geist. Hat er das ernst gemeint? Wird er wirklich versuchen, mir Faith wegzunehmen?
Er würde gewinnen, das weiß ich. Ich habe nicht die leiseste Chance. Und wenn nicht Colin kommt, um Faith zu holen, dann irgendein anderer Vertreter der katholischen Kirche, ein Reporter einer Fernsehnachrichtensendung, dessen Sendung Colin alarmiert hat, oder Tausende andere, die die Sendung ebenfalls gesehen haben und etwas von ihr wollen.
Ich schleiche auf Zehenspitzen ins Zimmer, lege mich zu Faith auf das schmale Bett und blicke hinab auf die Rundung ihrer Wange und die Spirale ihrer Ohrmuschel. Wie kommt es, dass man erst dann merkt, wie kostbar einem etwas ist, wenn man fürchten muss, es zu verlieren?
Faith bewegt sich, dreht sich um und blinzelt. »Ich rieche Orangen«, sagt sie schlaftrunken.
»Das ist mein Shampoo.« Ich streiche die Bettdecke über ihr glatt. »Schlaf weiter.«
»Ist Papa noch da?«
»Nein.«
»Kommt er morgen wieder?«
Ich sehe Faith an und fasse einen Entschluss. Ich möchte das nicht tun, aber im Grunde habe ich gar keine Wahl. »Das kann er gar nicht«, sage ich. »Weil du und ich nämlich weggehen werden.«
KAPITEL 8
Wenn es je einen Menschen gegeben hat, dem die Hölle gebührt hätte, dann Ian Fletcher. Es sei denn, es gelingt ihm, zu beweisen, dass sie gar nicht existiert, bevor er dorthin geschickt wird.
The New York Times, 10. August 1999
19. Oktober 1999
NUR DASS DU es weißt«, sagt Millie, »ich bin dagegen.«
»Ich nicht«, sagt Faith, als Mariah den Reißverschluss ihrer Jacke zuzieht. »Ich finde es cool, ein Spion zu sein.«
»Du bist kein Spion. Du bist ein Geheimagent.« Mariah klopft auf den Reißverschlussschlitten. »Bist du bereit?«
Sie weiß, dass Faith bereit ist; das ist sie seit 6.00 Uhr früh, als Mariah sie in ihren Plan eingeweiht hat. Natürlich hat sie das Ganze als ein Abenteuer dargestellt, damit Faith sich eher wie Indiana Jones vorkommt als wie ein Kind auf der Flucht. Und bislang entspricht die Aktion völlig Faith’ Erwartungen: Sie haben sich beide nur mit einem Rucksack in den Wagen gestohlen, sind eine Dreiviertelstunde bis zum Einkaufszentrum gefahren und dort in der Menge untergetaucht, um zwei hartnäckige Reporter abzuschütteln. Die Reporter werden zweifellos den Honda im Auge behalten und darauf warten, dass sie wie der auftauchen. Aber wenn Millie zum Parkplatz zurückkehrt, um den Wagen nach Hause zu fahren, werden Mariah und Faith längst die Kleidung gewechselt und an einem anderen Ausgang ein Taxi zum Flughafen genommen haben.
Jetzt bleibt ihr nur noch, sich zu verabschieden.
Mariah sieht auf der Toilette von Filene’s in den Spiegel über dem Waschbecken und begegnet dem Blick ihrer Mutter. Millie tritt vor und legt Mariah die Arme um die Taille. »Du brauchst dich von ihnen nicht in die Flucht jagen zu lassen«, sagt sie leise.
»Das tue ich auch nicht, Ma.« Mariah schluckt den Kloß in
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