Die Wahrheit der letzten Stunde
du es so formulierst«, entgegnet Mariah.
Colin muss seine ganze Willenskraft aufbieten, um sie nicht gewaltsam wegzustoßen, um sich seine Tochter zu schnappen. Bis zu seiner Ankunft wusste er nicht, was er vorfinden würde. Bestimmt hatten diese Boulevard-Magazine die Wahrheit verdreht, so wie der National Enquirer angeblich in einer Photomontage Elizabeth Taylors Kopf auf Heather Locklears Körper gesetzt hatte. Colin hatte erwartet, dass Faith sich die Hände an der Herdplatte verbrannt hatte oder so etwas in der Art.
Oder sie war vom Fahrrad gefallen und mit ein paar Stichen genäht worden. Es gab viele mögliche Erklärungen für die qualitativ schlechten Aufnahmen der blutenden Hände eines kleinen Mädchens. ;
Aber Colin hatte sich auf die Warteliste für den ersten Flug nach Las Vegas setzen lassen, hatte sich einen heftigen Streit mit Jessica geliefert wegen seines Heimfluges, war den ganzen Tag mit dem Flugzeug und anschließend mit dem Mietwagen unterwegs gewesen und hatte daheim festgestellt, dass seine Zufahrt von der Polizei gesperrt worden war, Schaulustige in Zelten vor dem Haus campierten und seltsame Schreine entlang der Straße errichtet hatten.
»Ich komme rein«, sagt er angespannt, und Faith lässt ihre Mutter los und läuft nach oben.
»Das halte ich für keine gute Idee. Das ist jetzt mein Haus.«
Colin braucht eine Minute, um sich zusammenzunehmen. Mariah verwehrt ihm etwas? Er macht einen Schritt nach vorn, aber sie hält ihn auf, indem sie ihm entschlossen eine Hand auf die Brust legt.
»Ich meine es ernst, Colin. Ich rufe die Polizei, wenn es sein muss.«
»Tu dir keinen Zwang an!«, herrscht er sie an. »Sie steht ja praktischerweise gleich am Ende der Auffahrt bereit!«
Er ist müde, gereizt und durcheinander. Als er die Scheidung eingereicht hat, hat er keine Sekunde gezögert, Mariah das Sorgerecht für Faith zu überlassen. Er hätte nie damit gerechnet, dass sie Schwierigkeiten machen könnte, wenn er soweit war, Faith in sein neues Leben einzuführen. Sie war fair, und wenn sie es einmal nicht war, ließ sie sich leicht überreden.
Oder zumindest war das einmal so gewesen. »Hör zu«, sagt er leise. »Würdest du mir bitte sagen, was genau mit Faith’ Händen los ist?«
Mariah starrt auf ihre nackten Füße. »Das ist nicht so einfach.«
»Mach es einfach.«
Sie zögert, dann stößt sie die Tür weit auf, damit er hereinkommen kann.
Nachdem ich Faith ins Bett zurückgebracht habe, erzähle ich Colin alles - von der eingebildeten Freundin, den Antipsychotika, dem Kommen und Gehen von Priestern und Rabbis, der Wiederauferstehung meiner Mutter. Einen Moment starrt er mich nur sprachlos an, dann lacht er. »Fast hätte ich dir geglaubt.«
»Das ist kein Scherz, Colin.«
»Richtig. Du glaubst also wirklich, dass Faith einen heißen Draht zu Gott hat.« Wieder lacht er. »Sie hatte schon immer eine blühende Phantasie, Rye, das weißt du doch. Kannst du dich erinnern, wie sie dem ganzen Kindergarten weisgemacht hat, dass sie, wenn sie in der nächsten Pause nach draußen gingen, in Disney World sein würden?«
Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. In mir brodelt unterschwelliger Zorn, Wut, dass Colin offenbar glaubt, er könnte einfach hier hereinspazieren und uns herumkommandieren, nachdem er dies Recht vor Monaten aus eigenem Antrieb verwirkt hat. Aber in den Zorn mischen sich noch andere Gefühle. Allein im selben Raum zu sein wie er, fühlt sich an wie eine Heimkehr, so als würde mein Körper spüren, dass er zu ihm gehört, und die Fühler nach ihm ausstrecken, ehe ich meinen Verstand davon überzeugen kann, dasselbe zu tun. Ein Tornado beginnt tief in meinem Bauch - ein Wirbel der Hoffnung, dass er für immer zurückgekommen ist, eine Windhose, die jede Vernunft in sich aufsaugt und davonträgt.
Ich beobachte die Bewegungen seiner Lippen, höre, wie er mich bei meinem Spitznamen nennt, und frage mich, wie ich es durchstehen soll, ihm so nahe zu sein in dem Bewusstsein, dass er mich nicht mehr will.
»Was immer geschehen ist, es ist außer Kontrolle geraten. Findest du es normal, dass sie nicht mehr in die Schule gehen kann? Dass unter den Rhododendronbüschen wildfremde Menschen schlafen, die glauben, dass unsere Tochter …« Er schnippt mit den Fingern vor meiner Nase herum. »He … hörst du mir überhaupt zu?«
Ich starre auf seine langen Finger. Obwohl die Scheidung längst rechtskräftig ist, trägt Colin einen Ehering.
Dann geht mir auf,
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