Die Wahrheit der letzten Stunde
dass es nicht der Ring ist, den ich ihm an den Finger gesteckt habe.
»Oh«, sagt Colin und errötet. »Das.« Er verdeckt den Ring mit der anderen Hand. »Ich, äh, habe geheiratet. Jessica.«
Als ich den Kopf schüttle, verändert sich meine Sicht von Colin plötzlich entscheidend. Er ist keine schöne, zärtliche Erinnerung mehr, sondern nur noch jemand, den ich nie verstehen werde. »Du hast Jessica geheiratet«, wiederhole ich langsam.
»Ja.«
»Du hast Jessica geheiratet.«
»Rye, mit uns das hätte nie funktioniert. Das tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
Meine Wut kehrt mit aller Macht zurück. »Es hätte nie funktioniert? Wie willst du das wissen, Colin, wo du es gar nicht erst versucht hast.«
»Ja, das stimmt. Ich war nicht bereit dazu.«
Er greift nach meiner Hand, aber ich ziehe sie weg und klemme sie mir zwischen die Knie.«
»O doch, du warst bereit, es zu versuchen, Colin, nur nicht mit mir.«
»Nein, nicht mit dir.« Verlegen wendet er den Blick ab. »Aber das ist doch jetzt nicht wichtig.«
»Ach nein? Gott, was könnte wichtiger sein?«
»Faith. Diesmal geht es nicht um dich. Du drehst immer alles so, dass es dein Problem ist, dass sich alles um dich dreht.«
»Es ging auch um mich!« Ich weine. »Wie kannst du sagen, Greenhaven wäre nicht mein Problem gewesen?«
»Es geht hier aber nicht um Greenhaven! Herr im Himmel, wir reden hier von unserer Tochter!« Er fährt sich mit einer Hand durch das Haar. »Das ist acht Jahre her, um Himmels willen. Ich habe damals getan, was ich glaubte tun zu müssen. Willst du mir das denn nie verzeihen?«
»Offenbar nicht«, erwidere ich leise.
»Ich weiß«, sagt Colin nach einer Weile. »Es tut mir leid.«
»Mir tut es auch leid.«
Er breitet die Arme aus, und ich trete zwischen sie. Distanziert staune ich, wie man jemandes Körper auch nach einer Trennung so gut kennen kann, wie ein Land, in dem man einmal gewesen ist und in das man Jahre später zurückkehrt, mit einem Blick für das Unbekannte, aber doch auch einer gewissen Trittsicherheit. »Ich wollte dir nie wehtun«, murmelt er, die Lippen an meinem Haar.
Ich will dasselbe zu ihm sagen, aber es kommt falsch über meine Lippen. »Ich wollte dich nie lieben.«
Überrascht rückt Colin von mir ab, ein wehmütiges Lächeln auf dem Gesicht. »Und genau das ist das Problem, habe ich Recht?« Er legt eine Hand an meine Wange. »Du weißt, dass ich Recht habe, Rye. Faith hat das nicht verdient.«
Und plötzlich weiß ich, warum er gekommen ist: nicht um Frieden zu schließen, sondern um mir meine Tochter wegzunehmen.
Und plötzlich erinnere ich mich daran, wie ich ihn vor Jahren manchmal mitten in der Nacht geweckt habe, um ihm eine lächerliche Frage zu stellen: »Was magst du an Cracker Jacks am liebsten: die Erdnüsse oder das Popcorn?« — »Wenn du ein Wochentag wärst, welcher würdest du dann sein wollen?« Und noch weitere in der Art, als würde ich mich auf ein Quiz für Frischverheiratete vorbereiten. Colin zog sich dann immer das Kissen über den Kopf und fragte stöhnend, warum ich das wissen wolle. Jetzt wird mir klar, dass ich die Antworten damals gehortet habe wie ein Eichhörnchen Nüsse. Ich wusste zwar nicht, dass Colin mit einer anderen Frau schlief, aber ich wusste, dass er seine Spiegeleier lieber mochte, wenn das Eigelb beidseitig gebraten war. Dass ihm schwindlig wurde vom Geruch von Tapetenkleister. Dass er, wenn er eine Sprache lernen müsste, Japanisch wählen würde.
Jetzt wird Jessica all das erfahren. Jessica wird meinen Ehemann haben, meine Tochter.
Faith hat das nicht verdient, hat Colin gesagt.
Und ich denke: ich auch nicht.
Bei dem Gedanken verspüre ich einen Stich in der Herzgegend - was, wenn ich Faith nicht behalten darf?
Plötzlich fühle ich in mir die Kraft, Berge zu versetzen, mit einer Hand all diese Menschen wegzuwischen, die mir meine Privatsphäre gestohlen haben. Faith irgendwo hinzubringen, wo niemand sie im Vorbeigehen anfassen, einen Fussel von ihrem Pullover klauben oder ihren Abfall durchwühlen kann.
Ich bin stark genug, mir zu sagen, dass ich alles in allem vielleicht eine ganz ordentliche Mutter bin. Und ganz sicher bin ich stark genug, mir einzugestehen, dass ich mir zum ersten Male im Leben wünsche, Colin würde weggehen.
»Weißt du«, sage ich, »wenn Faith mir ohne eine Spur von Zweifel sagen würde, dass der Himmel orange ist, würde ich ernsthaft darüber nachdenken. Wenn sie das behauptet, dann hat sie einen Grund
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