Die Wahrheit der letzten Stunde
glatt. »Ich habe ihr gesagt, Sie hätten sicher nichts dagegen.« Er zögert und nickt dann in Richtung des zweiten Priesters. »Das ist Vater Rourke vom Saint-John-Seminar in Boston. Er ist den ganzen Weg bis hierher gereist, um Faith kennen zu lernen.
Meine Wangen brennen vor Enttäuschung. »Wie konnten Sie das tun! Ich dachte, Sie stehen auf unserer Seite.« Vater MacReady setzt zu einer Entschuldigung an, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. »Nein. Bilden Sie sich nicht ein, irgendetwas, was Sie sagen, würde das in Ordnung bringen.«
»Mariah, ich hatte keine andere Wahl. Innerhalb der katholischen Kirche halten wir uns an eine bestimmte Vorgehensweise und…«
»Wir sind nicht katholisch!«
Vater Rourke erhebt sich ruhig. »Nein, das sind Sie nicht. Aber Ihre Tochter hat die Aufmerksamkeit zahlreicher Katholiken auf sich gezogen. Und die Kirche möchte sich davon überzeugen, dass diese Menschen nicht in die Irre geführt werden.«
Ich sehe vor meinem geistigen Auge Kreuzigungsszenen und Märtyrer, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. »Mariah, wir schießen keine Photos«, erklärt Vater MacReady beschwichtigend. »Wir werden nicht in den Abendnachrichten die Marke von Faith’ Frühstückszerealien bekannt geben. Wir möchten uns nur eine Weile mit ihr unterhalten.«
Faith steht auf und nimmt meine Hand. »Es ist in Ordnung, Mami. Wirklich.«
Ich blicke vom Gesicht meiner Tochter auf das des Priesters. »Eine halbe Stunde«, sage ich bestimmt. Dann verschränke ich die Arme über der Brust und setzte mich neben sie, entschlossen, sie nicht mit meinem Kind allein zu lassen.
Vater Rourke könnte ebenso gut seine Diagnosetests und seine Tintenklekse nehmen und mit dem nächsten Amtrak heimfahren. Er braucht keinen Computeranalytiker, der ihm bestätigt, dass Faith White keineswegs den Bezug zur Realität verloren hat und dass nichts darauf hindeutet, dass sie an einer Psychose leidet.
Er blickt auf Vater MacReady, der aus einer Schale M & Ms auf dem Couchtisch die gelben herauspickt und in den Mund steckt. Die Mutter hat in den vergangenen gut zwanzig Minuten mit keiner Wimper gezuckt. Rourke ist ratlos. Das Mädchen ist ganz sicher nicht geisteskrank, aber sie scheint auch vom religiösen Standpunkt aus kein Problemfall zu sein. Es ist nicht so, als würde sie sich groß über das auslassen, was Gott zu ihr gesagt hat, so wie die Frau, die er in Plymouth untersucht hat. Tatsächlich sagt Faith White so gut wie nichts.
Rourke überlegt, wie er weiter vorgehen soll, holt seinen Rosenkranz aus der Tasche und lässt ihn geistesabwesend durch die Finger gleiten. »Oh«, haucht Faith. »Das ist aber hübsch.«
Er blickt auf die polierten Perlen. »Möchtest du ihn dir ansehen?«
Faith nickt und zieht sich den Rosenkranz über den Kopf wie eine Kette. »Trägt man das so?«
»Nein. Man benutzt es, um zu Gott zu beten.« Als er Faith’ verständnislosen Blick bemerkt, fügt Rourke hinzu: »Unser Vater, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …« Er wird von Faith’ Gelächter unterbrochen.
»Sie sagen das ganz falsch.«
»Was ist denn daran falsch?«
Faith verdreht die Augen. »Gott ist eine Mutter.«
»Wie bitte?«
»Eine Frau. Gott ist eine Frau.«
Rourke errötet. Ein weiblicher Gott? Definitiv nein. Er richtet den Blick auf Mrs. White, die nur die Augenbrauen hochzieht und die Achseln zuckt. »Ach«, sagt MacReady mit Unschuldsmiene. »Habe ich vergessen, das zu erwähnen?«
Kurz nach 22.00 Uhr läutet es an der Tür. Ich hoffe, dass Faith nicht wach geworden ist, laufe so leise wie möglich nach unten und öffne. Vor mir steht Colin.
Er sieht furchtbar aus. Sein Haar ist auf der einen Seite an den Kopf gedrückt, so als hätte er darauf geschlafen, sein Regenmantel ist ganz verknittert, und seine Augen sind vom Schlafmangel blutunterlaufen. Seine Lippen sind missbilligend zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Er blickt über die Schulter auf die Lieferwagen und Autos auf dem Maisfeld auf der anderen Straßenseite. Die unwirklich anmutende Szene wird von einem satten Vollmond erleuchtet. Faith stolpert verschlafen die Treppe herunter und kommt schlitternd neben mir zum Stehen, die Arme um meine Taille geschlungen.
Als Colins Blick auf sie fällt, hockt er sich hin und streckt eine Hand nach ihr aus. Faith zögert, ehe sie sich hinter mir versteckt. »Was in Gottes Namen hast du meiner Tochter angetan?«, fragt er gepresst.
»Wirklich seltsam, dass
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