Die Wahrheit der letzten Stunde
Faith, okay?«
»Okay«, murmelt sie.
Ihre Mutter lächelt und küsst sie auf das Haar. »Danke.«
Als sie aufsteht, greift Faith nach ihrem Ärmel. »Es gefällt mir hier nicht.« Ihre Stimme klingt erstickt, und das ist ihr peinlich, aber sie kann nichts daran ändern. Und ehe sie reagieren kann, ehe sie sie aufhalten kann, laufen ihr die Tränen über die Wangen. »Es riecht komisch, es gibt keinen Disney-Kanal und auch nichts zu essen.«
»Ich weiß, Liebes. Aber Mr. Fletcher regelt das schon.«
»Wie kommt es eigentlich, dass er überhaupt hier ist? Wie kommt es, dass wir mit ihm zusammen wohnen müssen?«
Mit einem Mal sieht ihre Mutter so böse aus, dass Faith wünscht, sie hätte diese alberne Frage nie gestellt. »Wir machen keine langfristigen Pläne«, sagt ihre Mutter. »Wenn das Zusammenleben mit Mr. Fletcher nicht funktioniert, fliegen wir einfach woanders hin. Nach Las Vegas vielleicht.«
Das beruhigt Faith. Sie fühlt, wie ihre Mutter sich hinter ihr auf der Matratze zusammenrollt. Das erinnert Faith an die Hängematte in ihrem Garten, einer Art Netz aus Bindfaden, von dem sie glaubte, es würde sich auflösen, als sie sich das erste Mal hineinsetzte, das aber dann doch hielt. »Vielleicht haben wir Glück«, antwortet Faith gähnend.
Ihre Mutter legt ganz fest die Arme um sie. »Vielleicht haben wir das ja wirklich.«
Zuerst riecht er den Rauch. Zwei Feuersäulen ragen vor ihm auf, so hoch er sehen kann, sodass schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen, aber er weiß, dass er sie durchqueren muss. Seine Eltern, Gott, sie verbrennen. - Er stürzt sich mit dem Kopf voran in das Inferno, den Schmerz ignorierend, der seine Arme und Beine emporschießt und ihm die Haut vom Rücken abschält. Seine Augen schwellen zu von Hitze und Ruß, aber er kann fünf Finger sehen, die Umrisse einer Hand, und er greift danach, Hand gleitet über Hand, und er packt das Handgelenk. Ein Ruck - sie segeln durch die Luft, und er landet im Freien, wo ihm bewusst wird, dass er seinen Bruder festhält. Seinen Bruder, der nicht angefasst werden darf, der es nicht ertragen kann, angefasst zu werden, der auf Ians Hände und Schultern starrt und schreit, so laut, so schrecklich laut…
»Mr. Fletcher.« Er zuckt zurück. Schweißgebadet, das Bettzeug neben sich auf dem Fußboden. Mariah White kniet neben der grässlichen Couch und berührt seinen Arm. »Sie hatten einen Albtraum.«
»Das war kein Albtraum«, widerspricht Ian, obwohl seine Stimme noch ganz heiser ist vor Angst. Er kann keinen Albtraum gehabt haben, weil das bedeuten würde, er hätte geschlafen, und die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich geschlafen haben könnte, ist äußerst gering. Er schüttelt ihre Hand ab und zieht sich ans andere Ende des Sofas zurück. Er wischt sich mit dem Saum seines T-Shirts den Schweiß vom Gesicht.
Er hätte es besser wissen müssen, als zu versuchen, in Kansas City zu bleiben und so zu tun, als würde alles gut werden. Die Stadt hält für ihn nicht mehr bereit als böse Erinnerungen. Auch wenn sein Plan, Faith und Michael zusammenzubringen, funktioniert, kann dabei nichts Gutes herauskommen.
Mariah bietet ihm ein Glas Leitungswasser an. Mit zitternder Hand nimmt er es entgegen und trinkt gierig. Ihr Blick folgt dem ihren zur Anrichte, wo er die haltbaren Lebensmittel deponiert hat. Als er am Vorabend zurückgekommen war, war die Tür zum Schlafzimmer geschlossen gewesen, und auf dem Sofa lag ein Stapel Decken. Er hatte sich gesagt, dass er anstatt Lärm zu machen, mit dem Wegräumen der Einkäufe bis zum Morgen warten würde. Dann hatte er einen Block geholt und sich Notizen für die Sendung der kommenden Woche gemacht. Das war seine letzte Erinnerung, bevor er dann aufgewacht war, Mariah White an seiner Seite.
»Sie haben etwas von einem Feuer erzählt«, sagt sie zögernd.
»Ganz sicher habe ich allerlei wirres Zeug geredet.«
»Keine Ahnung. Ich bin gerade erst gekommen.«
»Ich habe Ihre Tochter doch nicht geweckt, oder?« Mariah schüttelt den Kopf. »Faith schläft wie ein Stein.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung, dass ich Sie geweckt habe.«
»Also, eigentlich haben Sie mich gar nicht direkt geweckt.« Ein Lächeln geistert über ihre Lippen. »Diese Matratze war in einem früheren Leben ein Folterinstrument.«
Ian lacht. »Wahrscheinlich hat man sie dazu benutzt, Gefangenen den Rest zu geben, die dieser Couch standgehalten haben.«
Ihre Blicke treffen sich. »Ich sollte nach Faith sehen«,
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