Die Wahrheit der letzten Stunde
wie eine Klette.
Und jetzt scheint es beinahe so, als würde er ihnen … vertrauen.
Sie sieht, wie Faith ihre Schüssel an den Mund hebt, um die Milch auszutrinken, und will sie gerade an ihre guten Manieren erinnern, lässt es aber dann sein. Jetzt, da sie auf der Flucht sind und es so viele Regeln zu beachten gibt, kann sie diesen kleinen Ausrutscher wohl durchgehen lassen.
Sie hat darüber nachgedacht, welchen Gefahren Faith beim Zusammenleben mit Ian Fletcher ausgesetzt ist, aber an sich selbst hat sie überhaupt nicht gedacht. Sie hatte außer Acht gelassen, dass es viel einfacher ist, eine Fernsehpersönlichkeit zu hassen als einen ganz normalen Mann. Ians Schuhe unter dem Sofa stehen zu sehen, seine Unterlagen auf dem Couchtisch - ja sogar der Zedern- und Seifengeruch seiner Haut im Bad - das alles macht ihn so … real. Das erhebt ihn über die zweidimensionale kulturelle Ikone mit dem höllischen Wunsch, Faith zu entlarven, hinaus, macht ihn zu jemandem mit Gefühlen, Zweifeln und sogar Albträumen.
Wenn Ian Fletcher ihnen soweit vertrauen kann, dass er sie allein lässt, kann Mariah ihm dann nicht soweit trauen, dass das Anmieten dieser Hütte kein Eigennutz war, sondern eine nette Geste?
Sie wendet sich wieder Faith zu. »Ziehen wir uns an. Wir gehen.«
Es bricht Ian fast das Herz, Anziehsachen bei Kmart zu kaufen. Einem Mann, der Armani-Anzüge und Schuhe von Bruno Magli gewohnt ist, kauft nicht gerne Jeans und Turnschuhe aus dem Sonderangebotsregal. Aber Ian weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dort von einem gelangweilten Verkäufer wiedererkannt zu werden, geringer ist als in einer exklusiveren Boutique. Er steht an der Kasse hinter einer Mutter mit drei Kindern an, die lautstark nach Süßigkeiten verlangen, und betrachtet ganz versunken die Kleidungsstücke in seinem Einkaufswagen.
»Haben Sie alles gefunden?«, fragt die Verkäuferin.
Es ist wunderbar still geworden, nachdem die Mutter ihre Kinder hinausgeschoben hat, die gierig in M&M-Packungen wühlten. Impulsiv nimmt Ian eine Packung der Schokolinsen aus dem Regal neben der Kasse und wirft sie auf das Band. Für Faith. »Ich denke schon.«
Beim Klang seiner Stimme blickt die Frau auf. Sie kneift die Augen leicht zusammen und versucht, den Zusammenhang zwischen seinem Südstaatenakzent und seinem Gesicht herzustellen. Einen Moment glaubt Ian schon, er wäre aufgeflogen, aber dann fährt sie fort, seine Waren einzuscannen. Sie muss zu dem Schluss gekommen sein, dass sie einen Doppelgänger vor sich hat. Was sollte der berühmte Ian Fletcher auch in einem Kmart wollen?
»Oh, das gefällt mir«, sagt die Frau und hält eine Kombination aus T-Shirt und Leggings mit einem Tweety-Aufdruck hoch. »Ich habe das Gleiche für meine Tochter gekauft.«
Ian hat es für Faith ausgesucht. Am gestrigen Abend ist ihm aufgegangen, dass sie in ihren Rucksäcken nicht viel zum Anziehen haben können und ebenso dringend neue Sachen brauchen wie er selbst. Unglücklicherweise kennt er sich mit Kindergrößen nicht aus.
Etwas für Mariah zu finden war da schon einfacher. Er brauchte sich nur zu vergegenwärtigen, bis wohin sie ihm reichte, wie breit ihre Hüften waren und wie schlank ihre Taille, und schon konnte er ihre Figur mit der einer seiner zahlreichen Verflossenen vergleichen. Sie hat übrigens eine wirklich sehr gute Figur, aber er hat weite Jeans und Flanellhemden ausgesucht und übergroße Sweatshirts - alles Sachen, in denen sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.
»Das macht hundertdreiundzwanzig Dollar neununddreißig Cents«, sagt die Verkäuferin.
Ian zückt seine Brieftasche und nimmt mehrere Zwanziger heraus. Er trägt die Tüte zum Mietwagen, steigt ein und ruft dann über Handy seinen Producer an.
»Wilton am Apparat.«
»Verdammt gut, dass wenigstens einer von uns da ist«, scherzt Ian.
»Ian? Himmel, ich bin fast verrückt geworden. Kannst du mir sagen, wo um alles in der Welt du steckst?«
»Tut mir leid, James. Ich weiß, dass ich gestern Abend zurück sein wollte, aber es gab einen … Notfall in der Familie.«
»Ich dachte, du hättest keine Verwandten mehr.«
»Trotzdem werde ich eine Weile zu tun haben.« Ian trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad, wohl wissend, dass James nicht das Geringste tun kann. Ohne Ian keine Show.
»Und wie lang genau ist eine Weile?«, fragt James schließlich.
»Das kann ich noch nicht sagen. Aber die Freitagsendung fällt definitiv aus. Ihr werdet eine Wiederholung bringen
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