Die Wahrheit des Alligators
Aufschrift lautete: PIERA BELLI – PROTOKOLL DER SPURENSICHERUNG AM TATORT / PROTOKOLL DER AUTOPSIE.
Ohne Zögern griff ich nach der Mappe, teils aus Neugier, teils aber auch aus Angst, ich könnte in der Via Torlonga Spuren meiner Anwesenheit hinterlassen haben. Während die Asche weiterhin auf den glänzenden Parkettboden fiel, blätterte ich rasch die ersten zwanzig Seiten durch, die ganz der Beschreibung des Tatorts gewidmet waren. Es folgte die vom Zustand der Leiche. Auf Seite 24 in der Mitte hieß es: Schmuckgegenstände: Am Hals ein Kettchen aus Weißgold, am rechten Handgelenk ein Kettengliederarmband in Gold, und am linken Handgelenk eine Uhr der Marke Rolex mit Metallarmband, stehengeblieben um 7 Uhr 36 oder 19 Uhr 36 des 28.
Ich las die letzte Zeile noch zwei Mal. Ein dummer Tippfehler. Die angegebenen Uhrzeiten, da war ich mir sicher, ja, hundertprozentig sicher, waren falsch. Ich blätterte noch weiter in der Mappe herum. Als ich die fotostatische Ablichtung des Polaroidfotos vom linken Handgelenk sah, zuckte ich zusammen: Die Zeigerposition bestätigte die Angaben im Protokoll. Und doch war ich mir hundertprozentig sicher, daß ich mich nicht getäuscht hatte; daß mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hatte, bestätigten meine Berechnungen am Tatort: Daraus hatte ich geschlossen, daß die Uhr sieben oder neunzehn Stunden, bevor ich das Verbrechen entdeckte, stehengeblieben sein mußte.
All das führte mich zu der Annahme, daß dieser verrückte Magagnin ins Haus zurückgekehrt war, vermutlich um noch mehr Geld zu holen, und vor Ort beschlossen hatte, die Uhr zu verstellen. Um die Spuren zu verwischen? Nein, das ergab keinen Sinn. Dann hätte er bestimmt nicht überall Fingerabdrücke hinterlassen, wie es hingegen der Fall war. Außerdem, wie hätte er ohne Auto von Abano nach Padua kommen sollen? Bepi Baldan hatte ihn in diesem verlassenen Haus abgesetzt, und die nächste Bushaltestelle war drei, vielleicht vier Kilometer entfernt. Und die zu Fuß zurückzulegen, bei einer körperlichen Verfassung wie der von Magagnin, die ihm bestimmt keine besondere Mobilität erlaubte, war unmöglich. Vor allem, weil dieser wußte, daß ihm die Polizei auf den Fersen war. Irgendwas stimmte da nicht.
Ich ließ die Blätter wieder auf den Tisch fallen und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Die einlullende Benommenheit des Alkohols ließ langsam nach. An ihrer Stelle machte sich eine schleichende Unruhe breit. Einerseits fühlte ich mich von einer Art Instinkt getrieben, diese Angelegenheit für abgeschlossen zu betrachten – ich konnte mein Geld, das mir in Kürze ausgehändigt werden würde, in aller Ruhe genießen, viele Platten und Flaschen von Jahrgangs-Calvados davon kaufen –, andererseits machte sich die Blues-Hälfte meines Charakters wieder bemerkbar, zupfte mich am Ärmel, forderte mich auf, nicht lockerzulassen, weiterzusuchen. Mein verflixtes Bedürfnis zu verstehen, nichts Ungelöstes hinter mir zu lassen. Es kam mir ein für den Anlaß geeigneter Blues in den Sinn:
You closed your eyes
and neon spun inside your head
cause it was dark outside.
You read your bible
but God never came.
Just in dem Moment kam Barbara Foscarini wieder herein. »Buratti, wer hat Ihnen erlaubt, in meinem Schreibtisch herumzuwühlen?«
»Haben Sie vielleicht einen Aschenbecher?« fragte ich sie und wies auf die Kippe, die ich auf einem eleganten Tintenfaß aus Kristall ausgedrückt hatte. »Geben Sie sofort diese Papiere wieder her.«
»Regen Sie sich doch wegen so einer Kleinigkeit nicht auf. Setzen Sie sich und schenken Sie mir ein wenig von Ihrer werten Aufmerksamkeit.« Rasch erzählte ich ihr, was ich entdeckt hatte. »Und Sie sind sich völlig sicher, sich richtig zu erinnern?«
»Ich versichere Ihnen, daß die Zeiger auf 4 Uhr 36 oder 16 Uhr 36 standen, aber bitte, wie Sie wollen.«
Sie bombardierte mich mit Fragen, als wäre es das Kreuzverhör in einem großen Prozeß. Meine Antworten überzeugten sie schließlich: Und es konnte auch gar nicht anders sein, denn wer die Uhr am Handgelenk einer Leiche ansieht, der vergißt den Anblick sein Lebtag nicht. Als gute Anwältin versuchte sie, diese neue Erkenntnis zugunsten ihres Mandanten zu verwenden, aber diese ließ sich unmöglich in eine Rekonstruktion der Fakten einbauen, die ihn in irgendeiner Weise entlastete.
Ich klemmte mir die ganze Mappe unter den Arm. »Hören Sie, es ist sinnlos, daß wir hier unsere Phantasie strapazieren, wir sind
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