Die Wahrheit des Alligators
Antibiotikum, ein sanftes Abführmittel oder andere Medikamente oder andererseits eine leichte Darmverstimmung mit unauffälliger Verstopfung genügen, um jede Vermutung wieder radikal umzustürzen.
Das einzige Element, das Tag und Stunde des Todes mit Präzision zu bestimmen erlaubt, ist die Armbanduhr am linken Handgelenk des Opfers. Da sie im Lauf der Tötungsaktion nicht beschädigt wurde und ein automatisches Uhrwerk besitzt, das bei Erlöschen jeder Bewegung am Puls zum Stillstand kommt, könnte man wie auch schon in anderen Fällen mittels eines speziellen Gutachtens ermitteln, wie lange der Mechanismus aufgeladen war, und dadurch den fraglichen Zeitpunkt eindeutig bestimmen.
Mit einem Ruck klappte ich die Mappe zu und blickte in Magagnins starrende Augen. Zum zweiten Mal im Lauf von nur wenigen Tagen begegnete ich diesem weit aufgerissenen Blick einer Person, die das Bild des Todes in sich trägt. Mit dem Unterschied, daß dieser Tod hier zweifellos schneller, weniger grausam, aber ebenfalls gewaltsam gewesen war. Es waren Augen, in denen ich einen Schatten des Vorwurfs zu erkennen glaubte.
Nicht ganz zu Unrecht. Schließlich hatte ich mich böse getäuscht.
B enjamino, er war unschuldig.«
»Wie kommst du darauf?« Ich stand vom Stuhl auf, um mir eine Zigarette zu holen. »Wenn ich nicht auf die Leiche von Piera Belli gestoßen wäre, vor allem aber, wenn ich nicht auf ihre Uhr geschaut hätte, hätte ich das nie entdeckt. so hingegen bin ich jetzt sicher, daß jemand in das Haus zurückgekehrt ist, und das, nachdem das Verbrechen verübt worden ist; bloß handelt es sich dabei nicht um Magagnin.«
»Immer vorausgesetzt, daß du dich nicht irrst.«
»Das hat die Anwältin Foscarini auch ein paar dutzendmal zu mir gesagt, aber seit ich den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen habe, gibt es für mich keinen Zweifel mehr: Die Zeiger sind verstellt worden. Ich kann das mit Bestimmtheit sagen, jetzt, wo mir klar geworden ist, welche Bedeutung sie bei der ganzen Sache haben. Ein vorsätzliches Verbrechen, geplant und ausgeführt mit einem doppelten Zweck: die Frau aus dem Weg zu räumen und die Schuld auf jemanden zu schieben, der dafür bestens geeignet schien. Und damit meine ich hier natürlich unseren Freigänger, Magagnin, der häufig Gast im Haus der Ermordeten war und eine entschieden ungewöhnliche Beziehung zu ihr unterhielt. Und das in mehrfacher Hinsicht, nicht zuletzt deswegen, weil sie ausgerechnet in jenem Gericht Geschworene gewesen war, das ihn 15 Jahre zuvor eines Mordes für schuldig befunden hatte, der mit dem jetzigen viele Ähnlichkeiten aufweist. Dem Mörder genügte es, daß Magagnin im Gefängnis landete und sich die Ermittlungen voll und ganz auf ihn konzentrierten. Was ja auch tatsächlich geschah. Kurz, das klassische perfekte Verbrechen, das nicht darum so heißt, weil der wahre Täter nicht entdeckt wird, denn in diesem Fall besteht ja immer noch die Möglichkeit, daß die Bullen eines Tages vor seiner Tür stehen … sondern, weil ein Unschuldiger an seiner Stelle angeklagt und verurteilt wird. Nur so ist ihm, dank der unfreiwilligen Komplizität der Justiz, Straffreiheit bis in alle Ewigkeit sicher.«
»Halt, mach mal ’ne Pause«, unterbrach mich Benjamino. »Du kommst mir vor wie mein Anwalt: viele schöne Worte und nichts dahinter. Ich hab noch nicht kapiert, was die verstellten Zeiger damit zu tun haben.«
»Paß auf. Magagnin war, wie du weißt, auch an diesem Tag in die Kooperative Sole gegangen. Also hätte er die Frau erst nach der Arbeit, also nach 19 Uhr, töten können. Aber um diese Zeit war sie schon tot. Der Mörder mußte die Zeiger der Uhr also um drei Stunden vorstellen, damit es so aussah, als wäre der Mord genau dann passiert, als Magagnin kein Alibi mehr hatte und kein Zeuge ihn mehr entlasten konnte. Aber Vorsicht: Die Zeiger sind nicht sofort verstellt worden, weil es anfangs keinen Sinn gehabt hätte. Wenn das Verbrechen noch am selben Abend oder am nächsten Tag entdeckt worden wäre, dann hätte das Element Uhr kaum Bedeutung gehabt, weil sie dann noch gelaufen wäre. Die Fingerabdrücke und die Dynamik des Mords wären mehr als ausreichend gewesen, um Magagnin zu belasten. Die Uhr wurde erst später wichtig, als die Leiche anfing zu verwesen, denn von dem Moment an genügte ein einfaches technisches Gutachten, um den Zeitpunkt, zu dem das Verbrechen geschehen war, eindeutig zu bestimmen. Die Rolex so zu belassen, wie sie war, hätte sie zum
Weitere Kostenlose Bücher