Die Wahrheit des Alligators
gründlicher unter die Lupe zu nehmen, um zu verhindern, daß ein Justizirrtum begangen würde, das schlimmste Vergehen in einem Rechtsstaat. Galderisis Eifer übertraf alle meine Erwartungen. Überraschende Wendung im Fall Belli. Gern hätten wir geschrieben: in den Ermittlungen, aber die bestürzenden Tatsachen, die wir heute veröffentlichen, sind nicht von den Ermittlungsbehörden an uns gegangen, sondern stammen aus anonymer Quelle. Derselbe Mann hatte schon am Morgen des 29. Juni die Polizei vom Vorhandensein einer Leiche in der Via Torlonga Nr. 29 verständigt. Vor einigen Tagen hat sich diese Person nun mit unserer Redaktion in Verbindung gesetzt, der Mann gab sich als »der mysteriöse Anrufer im Fall Belli« aus und behauptete, Alberto Magagnin, der des Mordes an der Professoressa angeklagte Freigänger, sei unschuldig; außerdem sei er in der Lage, Details über das Privatleben des Opfers zu liefern, die in den Ermittlungen noch nicht aufgetaucht seien.
Die Redaktion erklärte sich bereit, nur wirklich fundierte Nachrichten abzudrucken. Zu diesen gehört nicht die Behauptung, Magagnin sei unschuldig, auch wenn unsere Leser, wenn sie weiterlesen, vermutlich mit uns übereinstimmen werden, daß sich diesbezüglich erhebliche Zweifel aufdrängen. Piera Belli führte ein Doppelleben. In der Öffentlichkeit war sie die untadelige, ganz ihrer Lehrtätigkeit ergebene Gymnasialprofessorin, scheu und zurückhaltend, wie Kollegen und Nachbarn sie geschildert haben. Privat jedoch hatte diese unsere Mitbürgerin ziemlich zweifelhafte Gewohnheiten. Es geht hier nicht darum, ihr öffentlich den Prozeß zu machen, bestimmt vergessen wir auch nicht einen Augenblick ihr vorzeitiges und grausames Ende; vielmehr geht es darum, die neuen Erkenntnisse bekannt zu machen, denn wir glauben, damit verantwortungsvoll zu handeln und unsere Pflicht der Öffentlichkeit, vor allem aber der Justiz gegenüber, zu erfüllen. Hier also die Tatsachen, die durch in unserem Besitz befindliche Fotos belegt sind:
Piera Belli gab sich sadomasochistischen Praktiken hin. Sie organisierte Treffen für mehrere Personen, in deren Verlauf Kokain eingenommen wurde, das sie selbst regelmäßig konsumierte.
Die Frau hatte ein undurchsichtiges Verhältnis mit dem Freigänger Alberto Magagnin, auch dieses war sadomasochistisch gefärbt und mit Drogenkonsum verbunden. Die Tatsache an sich wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Piera Belli nicht ausgerechnet dem Schwurgericht angehört hätte, das Magagnin für den Mord an Evelina Mocellin Bianchini zu achtzehn Jahren Haft verurteilt hatte.
Im Lichte dieser Enthüllungen drängen sich gewisse Fragen auf, die wir den zuständigen Behörden vorlegen …
Bravo, Galderisi! Alles lief nach Plan. Der Skandal war so groß, daß die Ermittler gezwungen sein würden, den Fall wiederaufzurollen. Der Mörder hingegen mußte an diesem Punkt begriffen haben, daß die Konstruktion, auf die er sein Verbrechen gestützt hatte, ins Wanken geraten war.
Gegen Abend rief ich den Journalisten an, um ihm meine Glückwünsche auszusprechen, aber er war miserabler Laune.
»Ich habe den Tag bei Gericht verbracht. Die sind außer sich. Alle, vom Oberstaatsanwalt bis zum letzten Polizisten. Sie wollen keine Zweifel an der Anklage gegen Magagnin aufkommen lassen, aber es ist ihnen klar, daß alle Augen auf sie gerichtet sind und daß sie jede Menge Erklärungen schuldig sind. Sie werden sich mit äußerster Vorsicht bewegen, auch weil die Korrespondenten sämtlicher nationaler Medien in die Stadt eingefallen sind, aber ich habe das Gefühl, sie werden alles daran setzen, Magagnin festzunageln, egal, ob schuldig oder nicht. Es stehen zu viele Interessen auf dem Spiel, das ist einer von den Fällen, bei denen viele Köpfe rollen könnten, einschließlich meines eigenen. Der Chefredakteur wird ganz erheblich unter Druck gesetzt, und ich habe einige Mühe gehabt, ihn davon zu überzeugen, daß er den Artikel von morgen bringt. Das wird aber auch der letzte sein … und die Verantwortung dafür trage ganz allein ich. Auf der ersten Seite wird ein vergrößertes Detail der Ledermaske zu sehen sein, und ich behaupte in meinem Artikel, daß sich dahinter das Gesicht des wahren Schuldigen verbirgt.«
»Sind Sie jetzt auch davon überzeugt, daß Magagnin unschuldig ist?«
»Nein, gewiß nicht. Aber ich bin überzeugt, daß Sie wesentlich mehr wissen, als Sie mir gesagt haben, und daß es sich dabei um einigermaßen fundierte
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