Die Wahrheit des Alligators
schon die ganze Stadt. So ein saftiges Klatschthema bleibt in Padua doch keine fünf Minuten geheim.«
Rossini konnte ein tiefes Gähnen nicht unterdrücken. »Ich bin müde. Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man sich die Nächte um die Ohren schlagen kann. Schlafen wir bis zum Mittagessen und fahren dann zurück nach Padua. Ist dir das recht?«
Benjamino ging ins Bett. Ich war jetzt allein, also holte ich die Flasche raus und trank mir einen Rausch an. Ich ging zum Stereogerät, legte die Kassette The healer von John Lee Hooker ein und drehte auf volle Lautstärke. Als ich mich gerade im Rhythmus eines Solos von Carlos Santana wiegte, erschien Benjamino in einem schönen, feuerroten Seidenpyjama. Er nahm das Stereogerät und schleuderte es gegen die Wand, warf mir eine Kußhand zu, zwinkerte mir zu und ging wieder schlafen.
»Fotoagentur Familie Trentotto. Wer ist da bitte?«
»Marco Buratti. Kann ich mit Paolo Mazzo sprechen?«
»Einen Augenblick bitte.«
»Hallo, alter Gauner! Wie geht’s dir?«
»Glänzend. Hör zu, ich bin in einer Telefonzelle und das Geld ist bald durch. Ich brauche einen guten Fotografen, gut und verschwiegen. Seitdem du in Mailand arbeitest, weiß ich nicht mehr, an wen ich mich wenden kann.«
»Farbe oder Schwarzweiß?«
»Schwarzweiß.«
»Dann empfehle ich dir Claudio Sorgetti. Er ist einer der erfahrensten Fotografen von Padua, viele Kollegen haben bei ihm gelernt. Ich weiß, daß er sich jetzt mit Industriefotografie beschäftigt, aber er kann alles.«
Kurz vor vier Uhr nachmittags war ich am Geschäft des Fotografen. Es war noch zu, und ich flüchtete mich in den Schatten eines Laubengangs. Ich sah einen Mann um die fünfzig näherkommen, Jeans und kurzärmeliges Hemd, schulterlanges, weißes Haar und eine brennende Pfeife im Mund: Das mußte er sein. »Morgen ist ein Begräbnis. Ich brauchte einen Satz Fotos davon.«
»Das ist das erste Mal, daß ich um so etwas gebeten werde. Was brauchen Sie genau?«
»Scharfe Porträtaufnahmen in Schwarzweiß von allen Teilnehmern der Trauerfeier. Der Trauerzug wird morgen früh um acht Uhr zur Kirche San Pantaleo aufbrechen, wo die Messe gefeiert wird, dann wird der Sarg zum Hauptfriedhof von Treviso gebracht, um dort im Familiengrab beigesetzt zu werden. Mit ›allen‹ meine ich wirklich ausnahmslos alle, auch den Priester und die Totengräber.«
»Ist gut. Welches Format wünschen Sie?«
»Machen Sie nur Probeabzüge, dann werde ich Ihnen sagen, welche vergrößert werden sollen. Wann sind sie fertig?«
»Kommen Sie übermorgen um diese Zeit wieder.«
»Fragen Sie mich nicht nach dem Grund für diesen Auftrag?«
»Nein. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie würden mir ’ne Lüge auftischen.«
»Stimmt. Schade, ich hatte mir eine gute halbe Stunde lang den Kopf zerbrochen, um eine halbwegs passable Lüge zu erfinden.«
Ich traf Benjamino in der üblichen Bar.
»Wie ist es gelaufen?«
»Montag haben wir die Probeabzüge.«
»Und bis dahin?«
»Ruhen die Ermittlungen. Wir könnten es so machen: Wir fahren nach Punta Sabbioni, ich hole meinen Wagen, und wir sehen uns hier am Montag um zehn.«
»Ausgezeichnete Idee. Onkel Benjamino hat Lust, sich mal wieder verwöhnen zu lassen, und im Tucano Blu in Jesolo gibt es eine neue Entraîneuse, die gar nicht übel ist. Wenn du mitkommen willst, bist du mein Gast.«
»Nein danke. Ich glaube, ich werde gute Musik hören und dann nach Hause gehen und schlafen. Es war eine anstrengende Woche.«
Mein Freund warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was ist denn jetzt los?« fragte ich schnaubend. »Du wirst dich mit Calvados und Musik zuschütten bis zur Bewußtlosigkeit.«
»Wenn du gestattest, ist das meine Sache. Auf jeden Fall immer noch besser, als die Nacht in einem Nachtclub in Gesellschaft einer Mieze zuzubringen, die dich für Geld anlächelt.«
»Es gibt solche und solche Huren. würdest du das Ambiente besser kennen, hättest du nicht diese Vorurteile.«
»Ich habe die größte Achtung vor dem Gewerbe, aber ich habe überhaupt keine Absicht, neue Erfahrungen zu sammeln: Die, die ich in meinem Leben gemacht habe, reichen mir vollauf.« Der alte Rossini zündete sich eine Zigarette an. »Wenn du noch auf der Suche nach der großen Liebe bist, dann bewegst du dich im falschen Milieu. Und hast den falschen Beruf.«
»Ciao, Benjamino, bis Montag«, verabschiedete ich mich abrupt.
»Und der Wagen?«
»Diesmal nehme ich den Autobus.«
Auf dem Weg nach Hause machte
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