Die Wahrheit des Alligators
Evelinas zweitem Mann, Carlo Ventura, kann ich nur wenig sagen. Ich habe ihn nie gesehen, und ich weiß, daß auch Evelina nur selten Gelegenheit hatte, ihn zu treffen, da er bei seiner Mutter lebt, die es nie gern gesehen hat, daß er mit der neuen Lebensgefährtin ihres Mannes Umgang hat. «
»Ciao Marco. Du bist früh aufgestanden.«
»Ja«, sagte ich, und räkelte mich. »Ich will heute die Lektüre der Prozeßakten zu Ende bringen. Aus dem, was ich gelesen habe, geht nichts Interessantes hervor. Ich muß zugeben, wüßte ich nicht mit Sicherheit, daß Alberto unschuldig ist, an diesem Punkt wäre auch ich, wie die Richter, von seiner Schuld überzeugt.«
»Halt durch, Partner. Nicht locker lassen, wir haben keine andere Spur.«
»Das weiß ich sehr wohl. Gehst du weg?«
»Ja, ich geh einkaufen, vor allem aber zwei Ventilatoren besorgen: Man kommt ja um vor Hitze in dieser Wohnung. Ich nehm auch das Handy mit. Wenn ich die Brüder Caruso wieder in dieser Bar seh, dann ruf ich sie noch mal an. Wir müssen Zeit rausschinden, deshalb will ich sie in dem Glauben lassen, daß wir unsere Meinung geändert haben und mit einem Treffen einverstanden sind. Dann füge ich aber hinzu, daß wir ihnen nicht trauen und Garantien wollen. Das wird uns erlauben, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen.«
»Meinst du, die haben vor, Bepi Baldan auch zu erledigen?«
»Ja. Vorerst halten sie ihn sich warm, weil er der einzige ist, der uns identifizieren kann, aber wenn er seinen Zweck erfüllt hat, dann ist er für sie nur noch ein lästiger Zeuge.«
»Sollte man ihn nicht warnen?«
»Wenn er das selbst noch nicht kapiert hat, dann ist er wirklich ein Trottel. Aber ich glaube nicht, daß man es ihm sagen sollte, er würde bloß in Panik geraten. Die beiden Brüder würden kapieren, daß wir ihre Absichten durchschaut haben, und wir hätten keine Möglichkeit mehr, Zeit zu schinden. Er muß das alleine schaffen, und zwar noch vor einem eventuellen Zusammenstoß: Danach wäre er für alle lästig. Auch für uns.«
Ich setzte die Lektüre der Protokolle der Zeugenaussagen fort. Freunde und Bekannte der Ermordeten hatten ähnliche Erklärungen abgegeben wie Barbara Anelli Bucellati. Auch in puncto Kosenamen: Es war eine einzige Folge von genannt Toto, genannt Fefi, genannt Billo, genannt Duda. Entschieden anders klangen dagegen die Zeugenaussagen zur Persönlichkeit des Angeklagten.
Eine Tante. Nach dem Tod der Eltern beschlossen wir, ihn in ein Heim zu geben. Wir Verwandten konnten nicht für ihn aufkommen.
Die ehemalige Direktorin des Waisenheims San Luigi, eine geistliche Schwester. Ich erinnere mich gut an ihn. Er war ein aufsässiges Kind, neigte zum Ungehorsam und nahm das Studium des Katechismus nicht ernst. Er wurde häufig bestraft.
Die Lehrerin. Er hatte Lernschwierigkeiten und ein schlechtes Betragen in der Klasse. Es wundert mich nicht, daß er so geendet ist.
Ein Erzieher in der Jugendhaftanstalt . Er wurde in unser Institut eingewiesen, weil er eine Haftstrafe wegen Diebstahls zu verbüßen hatte. Während der Haft begann er Drogen zu nehmen. Wir versuchten auf alle Arten und Weisen, sein Verhalten zu bessern.
Ein Sozialarbeiter. Ich gab die Arbeit mit ihm auf, denn wenn er keine Drogen nahm, wurde er gewalttätig. Einmal hat er versucht, mich anzugreifen.
Eine Psychologin. Ein hoffnungsloser Fall von sozialer Verwahrlosung.
Man brauchte sich nicht zu wundern, daß Magagnin sich an eine so seltsame und gefährliche Person wie Piera Belli angeschlossen hatte. Im Grunde war sie der einzige Mensch, der, wenn auch auf ganz eigene Art, ihm etwas gegeben hatte, was man für Zuneigung halten konnte.
Ich legte auch diese Mappe beiseite. Dann las ich noch die Verhandlungsprotokolle, das Urteil, die Berufungsbegründung, das Urteil des Berufungsgerichts und die Aufzeichnungen der Verteidigung und der Anklage. Nichts. Ich war niedergeschlagen und schon bereit, die Ermittlungen aufzugeben. Daher nahm ich das letzte Konvolut, auf dem handschriftlich Verschiedenes geschrieben stand, mit einem tiefen Gefühl der Aussichtslosigkeit in die Hand. Darin waren Kopien der Schreiben aufbewahrt, in denen Anwältin Foscarini darum ersuchte, ihren Mandanten im Gefängnis besuchen zu können, außerdem der Briefwechsel zwischen den beiden und anderer bürokratischer Papierkram. Es war auch die Fotokopie eines Briefes dabei, den Rechtsanwalt Alvise Sartori an den Richter geschickt hatte, datiert vom 8. März 1976.
Von meinem
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