Die Wahrheit des Alligators
Mandanten Dott. Carlo Ventura habe ich erfahren, daß Sie die Absicht haben, Francesco und Selvaggia, die Kinder der verstorbenen Evelina Mocellin Bianchini, und Marco, den Sohn aus der ersten Ehe des Ventura, einzuvernehmen.
So verständlich und lobenswert die ermittlerische Sorgfalt auch ist, die dieser Absicht zugrunde liegt, erlaube ich mir doch in meiner Eigenschaft als Vertreter der Anklage, Sie darauf hinzuweisen, daß diese Vernehmungen im Hinblick auf die Verfahrensziele als unnütz anzusehen sind, da sie dem Beweismaterial zu Lasten des Angeklagten sicher kein signifikativ neues Element hinzufügen würden, auch und gerade wegen des Umfanges, den dieses im Lauf der Ermittlungen schon angenommen hat.
Des weiteren wird darauf hingewiesen, daß die Kinder der Ermordeten nach dem Begräbnis in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt sind, wo sie leben, und daß ihre Vorladung mittels des internationalen Rechtshilfeabkommens eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens mit sich bringen würde, während es Anliegen meines Mandanten (und auch des Oberstaatsanwalts) ist, so schnell wie möglich zur Verhandlung vor dem Schwurgericht zu schreiten, damit die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann.
Im übrigen glaubt die Anklage behaupten zu können, daß solche Verhöre vom psychologischen Standpunkt aus einen negativen Einfluß auf die drei jungen Leute haben könnten – die ja durch den schmerzlichen Verlust schon genug betroffen sind –, vor allem, wenn sie sich dann vor Gericht wiederholen sollten.
Insbesondere der junge Marco, der durch die Trennung der Eltern emotional ohnehin schon stark angegriffen ist, hat sich durch den verbrecherischen Akt so erschüttert gezeigt, daß seine Einweisung in die Klinik Santa Lucia in Padua erforderlich wurde. Die behandelnden Ärzte geben bekannt, daß sie entschieden gegen eine Vernehmung des Patienten sind, weil das mit Sicherheit eine Belastung mit schädlichen Konsequenzen für das ohnehin schon leidende Subjekt darstellen würde. Im Vertrauen auf Ihr Verständnis.
Ich las den Brief noch ein paar Mal durch. Dann holte ich noch einmal die Zeugenaussage von Barbara Anelli Bucellati hervor: Ich erinnerte mich an eine Passage, wo sie von den Kindern sprach.
Auf Befragen antwortete sie: »Die Kinder von Evelina, Francesco und Selvaggia, leben seit Jahren in den Vereinigten Staaten, wo sie die Universität besuchen. «
Auf Befragen antwortete sie: » Über Marco, den Sohn von Evelinas zweitem Mann, Carlo Ventura, kann ich nur wenig sagen. Ich habe ihn nie gesehen, und ich weiß, daß auch Evelina nur selten Gelegenheit hatte, ihn zu treffen, da er bei seiner Mutter lebt, die es nie gern gesehen hat, daß er mit der neuen Lebensgefährtin ihres Mannes Umgang hat. «
Ich zündete mir eine Zigarette an, goß mir Calvados nach und schob eine Blues-Kassette in die Stereoanlage. Als Zora Young die zweite Strophe von Make me feel real good tonight anfing, wurde mir allmählich klar, was bis dahin nur eine vage Empfindung gewesen war. Der explizite Hinweis auf den Oberstaatsanwalt, der denselben Wunsch wie Carlo Ventura äußerte, den Fall so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen, hatte mich unweigerlich hellhörig gemacht: Mehr noch als ein Appell an das Verständnis des Richters, an den der Brief adressiert war, schien es die unmißverständliche Aufforderung zu sein, eine bestimmte Entscheidung zu fällen – eine Art von versteckter Drohung, keine Probleme zu machen. Sartoris Brief war scheinbar formlos, in der Tat trug er keinen der Eingangsstempel und Registriernummern, mit denen Prozeßakten gewöhnlich gekennzeichnet werden (man konnte daher annehmen, daß die Kopie, über die die Foscarini verfügte, durch den Übereifer eines Gerichtsschreibers in ihre Hände gelangt war), aber es schien, als handelte es sich dabei um den abschließenden Akt eines gründlich durchdachten Plans.
Die Absicht lag auf der Hand: die drei jungen Leute aus dem Fall herauszuhalten und sie nicht aussagen zu lassen, vor allem nicht öffentlich, vor dem Schwurgericht, wo sie mit der Presse in Kontakt gekommen wären.
Ich fragte mich, ob sie den Verhandlungen trotzdem beigewohnt hatten, und machte mir eine Notiz, um nicht zu vergessen, Galderisi zu fragen, was er darüber wußte, auch wenn ich mir hundertprozentig sicher war, daß sie ihren Fuß nie in den Gerichtssaal gesetzt hatten. Francesco und Selvaggia lebten in den USA und hätten sich nicht länger als nötig in Italien
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