Die Wahrheit des Alligators
aufgehalten, gerade so lange, um am Begräbnis teilzunehmen. Das erschien mir wirklich nicht gerade das Verhalten von zwei tieftrauernden Kindern; im übrigen schien die Anklageerhebung und die Nominierung von Anwalt Sartori mehr ein Akt der Pflichterfüllung als der Ausdruck eines realen Willens zu sein, den Mörder der Mutter bestraft zu sehen. Normalerweise versuchen die Anwälte der Opfer, ein für den Angeklagten ungünstiges Klima zu schaffen, indem sie das Gericht durch erschütternde Zeugenaussagen rühren. Die Aussage zweier Kinder, die von Vaterseite her ohnehin schon verwaist sind und sich im Zeugenstand daran erinnern, wie zärtlich sie ihre Mutter geliebt haben, hätte das Strafmaß für Magagnin garantiert erhöht. Sartori dagegen hatte nicht mal gewollt, daß sie per Rechtshilfe aussagten. Noch weniger verständlich erschien die Reaktion von Marco, dem zwanzigjährigen Sohn von Carlo Ventura. Man konnte sagen, daß er die Ermordete kaum kannte, in der Tat war er ausdrücklich am Umgang mit ihr gehindert worden; deswegen war es schwer zu glauben, daß die affektive Bindung an sie so intensiv gewesen war, daß der Junge nach ihrem Tod in eine schwere Krise verfallen war, die sogar die Einweisung in eine Klinik erforderlich machte.
Je mehr ich darüber nachdachte, um so absurder erschienen mir die Gründe, die Sartori anführte, sie waren unlogisch und anmaßend. So war’s. Ich begann, nervös auf der Unterlippe herumzukauen. Na klar! Zwischen den Zeilen dieses Briefes, der nichts weiter war als der taktisch geschickte Schachzug eines gewieften Anwalts, verbarg sich des Rätsels Lösung: die Wahrheit.
Die Situation verdiente gebührend gefeiert zu werden. Ich stand auf, packte das Glas und die Calavadosflasche: »Francesco, Selvaggia und Marco, ich setze auf euch. Ihr werdet das Rennen machen. Das spüre ich«, sagte ich laut, und goß mir großzügig ein.
Als mein Freund zurückkam, fand er einen angesäuselten und zufriedenen Menschen vor. »Was feierst du denn da?«
»Meine Findigkeit als Privatdetektiv.«
»Hast du was entdeckt?«
Ich setzte ihm meine Theorie auseinander. Wie üblich überzeugte sie ihn nicht.
»Von den dreien sind zwei am anderen Ende der Welt, und einer ist durchgeknallt. Und mit einer solchen Fährte willst du uns aus dem Schlamassel herausholen?«
»Es sind fünfzehn Jahre vergangen, es ist nicht gesagt, daß das Geschwisterpaar in den USA geblieben ist, und der Durchgeknallte könnte mittlerweile geheilt sein. Sei doch nicht immer so pessimistisch.«
Er sah mich skeptisch an. »Ich habe mit Alfredo Caruso gesprochen«, teilte er mir mit und ging damit zu einem anderen Thema über. »Ich habe mich bemüht, so aalglatt zu sein wie sie, und habe den Köder ausgeworfen. Ich glaube, sie haben angebissen, aber besser, man traut ihnen nicht: Bei diesen Leuten weiß man nie.«
»Wie lange, meinst du, können wir sie hinhalten?«
»Nicht länger als eine Woche. Mehr Zeit ist nicht drin, wenn wir uns diesen Ärger vom Hals schaffen wollen.«
»Und wenn es uns nicht gelingt?«
»Dann sind wir gezwungen zu fliehen. Weit weg, sehr weit weg, und die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht, Marco. Ich bin zweiundfünfzig.«
Demonstrativ hielt ich mir die Ohren zu, und er warf eine leere Kaffeetasse nach mir, samt Untertasse und Löffelchen.
Ich schlief zwei Stunden. Beim Erwachen war ich eher benommen, aber als ich unter der Dusche stand, legte ich mir einen Plan zurecht. Eine Woche war zu kurz, es war einfach unvorstellbar, es innerhalb dieser Zeit allein zu schaffen. Wir brauchten also Hilfe. Aber an wen konnten wir uns wenden? Barbara Foscarini war aus dem Spiel, noch einmal Kontakt zu Max dem Gedächtnis, aufzunehmen, wäre zu langwierig und umständlich gewesen. Blieb nur noch Giovanni Galderisi. Ich mußte ihn unbedingt überzeugen.
Das Gespräch begann nicht unbedingt glücklich. »Was soll ich mit diesem Handy machen?« fragte er, sobald er mich erkannte.
»Ist das nicht unser Kommunikationsmittel?«
»Das war es. Unsere Zusammenarbeit ist hiermit beendet.«
»Warum?«
»Ich habe Ihnen vertraut, ich habe Ihre Bedingungen akzeptiert, habe die Artikel veröffentlicht, ich habe Ihnen Informationen zukommen lassen und mich so weit exponiert, daß ich polizeilich observiert wurde … aber ich weiß noch immer nicht, was eigentlich vor sich geht, und um dem Ganzen eins draufzusetzen, die Informationen, die Sie mir versprochen hatten, sind nie angekommen.«
»Sie
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