Die Wahrheit des Alligators
Leiche einer Frau gestoßen. In der Annahme, sie sei lediglich verletzt, habe er sich ihrem Körper genähert und sie berührt, und auf diese Weise habe er sich die oben erwähnten Blutflecken zugezogen. Die aufnehmenden Beamten verständigten den Haftrichter, der, nachdem er seinerseits Magagnin verhört hatte, dessen Festnahme als Tatverdächtigen anordnete …
Im Zuge der behördlichen Ermittlungen wurden zahlreiche Zeugenaussagen aufgenommen sowie die Durchführung einer hämatologischen Untersuchung an den Kleidungsstücken des Verdächtigen angeordnet, die dem Gerichtsmediziner Emilio Artoni anvertraut wurde.
Mit Verordnung vom 21. Juni 1976 verfügte der Untersuchungsrichter die Eröffnung des Verfahrens vor dem Schwurgericht von Padua.
Im Lauf der Verhandlung wurde der Angeklagte befragt, und man schritt zur Vernehmung der Zeugen und des Sachverständigen.
Nach Abschluß der Vernehmungen zog sich das Gericht zur Beratung zurück, um das Urteil zu fällen. Ich setzte meine Lektüre mit dem zweiten Teil fort: Begründung der Entscheidung.
Jede Beweiswürdigung, will sie relevant sein, d. h. für den Inhalt der Entscheidung Bedeutung haben, muß überprüfbar sein: Eine Tatsache zu beweisen ist daher die abgekürzte Formel für »das Urteil über eine Tatsache mit Hilfe einer gewissen Methodik überprüfen« . Eine derartige Anforderung erhebt sich angesichts solcher Aussagen, die, da sie weder der Kategorie des sicher Wahren noch der des sicher Falschen angehören, mithin als wahrscheinlich eingestuft werden müssen, mit anderen Worten, deren experimentelle Überprüfung denkbar ist. Erkenntnisse eines Richters sind also ausnahmslos empirische Erkenntnisse: Moralische Gewißheiten sind nicht zulässig.
Im vorliegenden Fall ist das beweiskräftige Motiv die Frage, ob Magagnin, Alberto, den Tod der Mocellin Bianchini, Evelina, verursacht hat, oder ob vielmehr seine Behauptung der Wahrheit entspricht, derzufolge er sie schon als Leiche aufgefunden habe und sich bei einem so ungeschickten wie überflüssigen Versuch der Hilfeleistung mit Blut befleckt habe.
Die Aktenlage zeigt eindeutig, daß jeder Hinweis und jede nur denkbare Möglichkeit in Betracht gezogen worden sind und daß die Beweiserhebung mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit durchgeführt wurde, wie unter anderem aus der ausführlichen Zeugenvernehmung, der akribischen Spurensicherung, den Experimenten und dem – teils über das gerichtlich Erforderliche hinaus- detaillierten Gutachten ersichtlich …
Im Rahmen dieser Beweislage erlauben die im hämatologischen Gutachten festgestellten Daten den zunächst logisch, sodann wissenschaftlich zwingenden Schluß, daß es sich nicht um den zögernden, flüchtigen, ungeschickten Kontakt eines zu Hilfe Eilenden gehandelt hat, sondern eindeutig um die Tathandlung eines Aggressors, der entschlossen war zu töten.
»Na sehr schön!« rief ich laut aus und zog Benjaminos Aufmerksamkeit auf mich. »Was gefunden?« fragte er.
»Nein. Ich hab das Urteil gelesen in der Hoffnung, dabei auf irgendein wichtiges Element zu stoßen, das der Aufmerksamkeit der Richter seinerzeit entgangen ist, dagegen sehe ich, daß die sich ausschließlich auf das Gutachten von Artoni gestützt haben und damit in die von Rechtsanwalt Sartori gestellte Falle gegangen sind. Es lohnt sich nicht weiterzulesen«, sagte ich und warf die Akte auf den Tisch. »Vielleicht mit den Ermittlungsprotokollen.«
»Laß das erst mal, es ist Zeit rauszugehen, in welche Kneipe willst du?« Die Wahl fiel aufs Mezzocono. Es war ein eher kleines Lokal, wenn also hier jemand Ungewöhnliches aufgetaucht war, so war das bestimmt bemerkt worden. Ubaldo, der Koch, hatte jahrelang in einem besonders turbulenten Viertel der Stadt eine Bar betrieben und hatte ein geschultes Auge für ungewöhnliche Situationen.
Wir bestellten zweimal Bigoli in Sauce, die Spezialität des Hauses, und er trug selbst auf. »Hallo Chef.«
»Ich grüße dich, Alligator. Gestern sind hier drei Typen aufgekreuzt und haben gefragt, ob du dich hast blicken lassen, womöglich in Gesellschaft eines Mailänders«, betonte er, aus den Augenwinkeln nach Rossini schielend. »Zwei davon kenne ich, das sind die Brüder Caruso. Den anderen hatte ich noch nie gesehen, er trug ein Pflaster auf der Nase und machte den Eindruck, als säße er auf Kohlen … als ob er in der Gesellschaft überhaupt nicht glücklich wäre.«
»Danke für die Information, Chef. Ich bin in deiner
Weitere Kostenlose Bücher