Die Wahrheit des Alligators
räumen, und falls ihnen das nicht gelingt, hetzen sie uns die Gesetzeshüter auf die Fersen.«
»Das ist mir noch nicht klar.«
»Sieh mal, Marco. Verhandlungen funktionieren nur innerhalb desselben Milieus. Wir gehören nicht zu ihren Kreisen, wir sind zwei ›halb illegale Randfiguren‹, um es mit ihren Worten auszudrücken, einfacher gesagt: Wir sind für sie nicht kontrollierbar. Sie sind der Meinung, daß wir eines schönen Tages auf die Idee kommen könnten, sie zu erpressen oder, wenn wir Ärger mit der Justiz haben, uns herauszuwinden, und die Machenschaften aufdecken, von denen wir wissen … folglich können wir’s vergessen, groß verhandeln zu wollen.«
»Was schlägst du denn vor?«
»Ich weiß nicht. Ich bin noch etwas konfus, auf jeden Fall ist es wichtig, zu der Verabredung zu gehen, danach denken wir über alles Weitere nach. Erst einmal müssen wir einen sicheren Fluchtweg aus der Kanzlei des Anwalts ausfindig machen, denn sobald sich morgen deren Tür hinter dir schließt, wird dich die gesamte Caruso-Bande dort empfangen.«
»Ich hatte sie völlig vergessen.«
»Du bist wirklich ein Anfänger«, stellte er fast resigniert fest. »Das nächste Mal, wenn du ein Treffen ausmachst, frag vorher Onkel Benjamino.«
Die Kanzlei lag, wie zu erwarten, in der Nähe des Gerichts, im obersten Stockwerk eines Gebäudes, in dem sich ausschließlich Büros befanden, die alle leer waren, da es Samstag nachmittag war und dazu noch Ende Juli. Rossini brach das Schloß der Eingangstür mühelos auf, und wir gingen durch sämtliche Stockwerke. Als wir auf dem Dach angelangt waren, knackte er auch ein Eisentor, das auf eine große Terrasse führte.
»Morgen früh, knapp vor Sonnenaufgang, verstecken wir uns hier mit dem Motorrad.«
»Willst du die Maschine sechs Stockwerke hochschleppen?«
»Laß mich ausreden! Die Kanzlei ist ein Stockwerk tiefer, wenn die Carusos die Absicht haben, dir dort aufzulauern, dann sehen wir sie heraufkommen. Andernfalls brauchst du zum Zeitpunkt der Verabredung nur ein Stockwerk runterzugehen und zu klingeln. In der Zwischenzeit blockiere ich den Aufzug und behalte das Treppenhaus im Auge, von oben ist das einfacher. dann, wenn du herauskommt, gehen wir in den Keller, holen das Motorrad und preschen mit Vollgas durch die Eingangstür. Damit überrumpeln wir sie, und sie werden nicht in der Lage sein, uns einzuholen.«
»Kannst du dir nicht etwas weniger anstrengende Pläne ausdenken? Die Aussicht, sechs, sieben Stunden auf einem Dach versteckt zuzubringen, macht mich überhaupt nicht an.«
»Das ist nur deine Schuld. Man vereinbart nicht einen Tag vorher ein Treffen, wenn man Killer auf den Fersen hat.«
»Okay. Und was machen wir bis zum Morgengrauen? Ich habe keine Lust, in diesem Loch zu hocken.«
»Wir können auch in ein Lokal gehen, vorausgesetzt, es ist voll. Die Carusos werden damit beschäftigt sein, sich auf morgen vorzubereiten, ich vermute mal, heute abend werden sie sich eher ruhig verhalten.«
Wir gingen ins Porto, ein nettes Lokal, das ein Freund von mir, Massimo Biondi, vor kurzem eröffnet hatte. An diesem Abend traten Jojo and the blueshoes auf, eine Bluesgruppe aus Padua, in der Luca Palmarin mitspielte, der frühere Schlagzeuger meiner Band.
Alle freuten sich, mich wiederzusehen und ein bißchen mit mir über die alten Zeiten zu plaudern. Nach dem Konzert verließ mich Benjamino, um eine Blondine aufzureißen. Während ich verärgert feststellen mußte, daß ich keine Zigaretten mehr hatte, hörte ich eine Stimme fragen: »Darf ich?«
Ich hob den Blick. Es war ein schnurrbärtiger Typ mit Brille und einer ruhigen Ausstrahlung. Er sah mich lächelnd an und wies auf einen Stuhl.
»Nein«, antwortete ich.
Er setzte sich trotzdem. »Die Person, die mich schickt, hat mir gesagt, ich soll dir das hier geben.«
Vom Format her zu urteilen, mußte es sich um eine LP handeln.
Ich riß das Papier auf und blickte auf das Cover von Last session von Blind Willie McTell. Ich kannte die Platte, ein echtes Sammlerstück, 1956 in Atlanta aufgenommen. Seit Jahren war ich auf der Suche danach.
»Hast du einen Namen?« fragte ich neugierig.
»Alberto?«
»Mit Nachnamen?«
»Cabiddu.«
»Gut, Alberto Cabiddu, ich war knapp zwei Monate alt, als der alte Blind dieses Meisterwerk aufnahm, einer der Meilensteine des Blues. aber ich glaube nicht, daß dich das interessiert. Und nun zur nächsten Frage: Wer? Und vor allem: Warum?«
»Ich kann beide Fragen nur ganz
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