Die Wahrheit des Blutes
kam auf ihn zu. Ihre Gesichtsfarbe unterschied sich kaum von ihrer Bluse. Ein spitzes Gesicht, das von zwei hervortretenden Augen dominiert wurde. Blonde Locken kringelten sich auf ihrer Stirn wie aus der Erde gerissene Wurzeln.
»Brigitte Devèze. Ich bin die Ärztin, die Ihre Frau behandelt.«
Passan schüttelte ihr die Hand.
»Ich habe schon nach Ihnen gesucht«, log er.
»Keine Sorge«, hakte sie sofort ein. »Die Verletzung ist nicht gefährlich.«
»Hat der Sturz nichts hinterlassen?«
»Die Karosserie des Autos hat ihren Fall gebremst. Sie hat wirklich großes Glück gehabt.«
Passan dankte der Ärztin mit einem Lächeln und blickte auf die Uhr. Halb sieben. Die Vorstellung im Kino musste längst vorbei sein. Er musste Fifi anrufen. Ein Hotel finden. Den Kindern ein halbwegs normales Leben vorgaukeln.
»Was ist eigentlich genau passiert?«, erkundigte sich die Ärztin mit einem besorgten Blick auf sein verbranntes Gesicht. »Die Verletzung sah aus, als wäre sie durch eine Klinge oder etwas Ähnliches verursacht worden. Ich habe Ihrer Frau diese Frage auch schon gestellt, aber ihre Antwort erschien mir nicht ganz eindeutig.«
Beinahe hätte Passan wieder wie ein echter Polizist geantwortet: »Ich stelle hier die Fragen.« Doch stattdessen lächelte er.
»Die Ermittlungen laufen noch«, wich er aus. »Ich weiß auch nicht mehr als Sie.« Wieder sah er auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich muss dringend zu meinen Kindern.«
Ohne sich aufhalten zu lassen, hastete er durch die Flügeltür zur Treppe. Draußen wählte er Fifis Nummer.
»Alles okay?«
»Soweit.«
»Was habt ihr euch angesehen?«
»Kung Fu Panda 2.«
»Und? War er gut?«, fragte Passan zerstreut.
»Ziemlich lärmig.«
Und das von Fifi, der Neometal, Hardcore und Indus liebte!
»Wie geht es Naoko?«
»Den Umständen entsprechend gut. Schon was Neues von Sandrine?«
»Noch nicht. Zacchary hat alle Hände voll zu tun.«
»War der Staatsanwalt schon da?«
»Ich glaube schon.«
»Und wer kümmert sich um die Ermittlungen? Die Pariser Kripozentrale?«
»Bis jetzt ist noch nichts klar. Im Augenblick kümmert sich die Mordkommission von Saint-Denis um die Beweisaufnahme.«
»Aber das ist unsere Angelegenheit, verdammt!«
»Beruhige dich. Erstens bist du in der Zentrale Persona non grata, und zweitens müsstest du eigentlich noch im Krankenhaus liegen. Du kannst nichts anderes tun, als auf der Wache in Pantin Anzeige gegen unbekannt zu erstatten.«
Fifi hatte recht. Trotzdem konnte Passan den Staatsanwalt und Lefebvre anrufen und ein wenig Dampf machen. Vielleicht brachte er es ja fertig, dass man den Fall wieder ihm zuteilte.
»Calvini will dich sehen«, fuhr Fifi fort.
»Warum?«
»Keine Ahnung. Gleich morgen früh.«
»Am Sonntag?«
»Er wartet zu Hause auf dich. Ich schicke dir die Adresse gleich per SMS.«
Passan stand vor seinem Auto. Die Einladung ließ nichts Gutes ahnen.
»Irgendwas Neues von Guillard?«
»Keinen Schimmer.«
»Versuch etwas herauszubekommen. Und von Levy?«
»Absolut nichts. Der Kerl scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.«
Man musste also mit dem Schlimmsten rechnen.
»Was macht ihr gerade?«
»Eis essen.«
»Wo?«
»Montparnasse.«
Passan erinnerte sich an ein Schutzprogramm für einen Zeugen aus Albanien. Während des Prozesses war der Mann im Hotel Méridien in der Avenue du Commandant Mouchotte gleich hinter dem Gare Montparnasse untergebracht worden. Das Hotel gehörte inzwischen zur Pullman-Kette, war jedoch vermutlich nicht sehr verändert oder umgebaut worden. Passan kannte alle Zugänge, Ausgänge und die Aufteilung der Etagen. In diesem Hotel konnte er mit wenigen Polizisten die Sicherheit der Kinder gewährleisten.
Er gab Fifi die Adresse und verabredete sich mit ihm für eine halbe Stunde später.
Als er in seinem Auto saß, überwältigte ihn plötzlich die Angst. Naokos Drohung, nach Tokio zurückzukehren, machte ihm zu schaffen. Immer hatte sie geschworen, dass sie Paris als ihre Heimat betrachtete und selbst im Trennungsfall bleiben würde. Bullshit! Auch die Kinder besaßen japanische Pässe. Mit anderen Worten: Naoko konnte problemlos von heute auf morgen das Land verlassen und ihre Söhne mitnehmen.
Natürlich hatte er sich informiert. In einem solchen Fall konnte Naoko zwar wegen Kindesentführung und unerlaubten Verlassens des Landes belangt werden. Allerdings gab es zwischen Frankreich und Japan kein Auslieferungsabkommen. So oder so war Passan der
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